«Tschutti Heftli»

Rettungsaktion für Luzerner Kult-Fussball-Stickeralbum

Silvan Glanzmann ist Vorstandsmitglied und Projektleiter im Verein Tschutti Heftli. (Bild: jdi)

Der FC St. Pauli verkauft es im Fanshop, die brasilianische Fussballlegende Pelé war Mitglied der Jury und selbst die Nati-kritische Fankurve des FCL hegt Sympathien für es: Das Luzerner «Tschutti Heftli» ist längst Kult. Um am Ball bleiben zu können, startet der Verein eine kreative Rettungsaktion.

Alles war wie immer, als die Schweizer Nati im November ihr erstes Spiel der Fussball-WM austrug. Granit Xhaka durfte keine Regenbogen-Captainbinde tragen, die FIFA log die Menschenrechtsverletzungen am Austragungsort schön und Hunderttausende Schweizer fanden sich vor dem Fernseher wieder. Online gar so viele wie bei SRF noch nie zuvor. Doch während die Flimmerbilder aus Katar hierzulande dank eines 1:0-Siegs gegen Kamerun für Zufriedenheit sorgten, gab es die Abziehbildchen von «Tschutti Heftli» zum allerersten Mal seit der Erstausgabe 2008 nicht. «Boykott» lautete die Devise des Luzerner Vereins (zentralplus berichtete).

Das nächste grosse Männer-Fussballturnier steigt nächsten Sommer: Europameisterschaft in Deutschland. Doch auch 2024 könnte das Sammelheft mit von Künstlerinnen gestalteten Spielerporträts ausbleiben. Nicht etwa wegen eines möglichen Boykotts. Sondern, weil es dem «Tschutti Heftli» finanziell schlecht geht.

Finanzielle Notlage wegen Corona und Frauen-EM

Corona und die spontan bewilligte Männer-EM 2020, der Umstieg auf eine soziale, nachhaltige, aber eben auch teure Produktion und eine mässig erfolgreiche Ausgabe zur Frauen-EM 2022 hätten den Luzerner Verein Tschutti Heftli einen Grossteil seiner finanziellen Reserven gekostet, erklärt Silvan Glanzmann. Der 47-Jährige engagiert sich seit der Gründung als Projektleiter und Vorstandsmitglied ehrenamtlich für das «Tschutti Heftli».

Dass der Umstieg auf eine sozialere und ökologischere Produktion seinen Preis haben würde, war einkalkulierbar. Dass die Euphorie rund um die Frauen-EM 2022 in der Schweiz – anders als in Deutschland – aber derart klein war, hat Glanzmann überrascht – und enttäuscht. «Hierzulande drehte sich die Berichterstattung absurderweise darum, dass die Berichterstattung kaum stattfinde», erinnert er sich. Dementsprechend harzig muss der Verkauf der Sammelalben mit den dazugehörenden Bildchen ausgefallen sein.

«Wir geniessen in den Fankurven Sympathien. Denn wir sind kreativ, alternativ und keine Fans des ‹modernen Fussballs› – genau so, wie sie auch.»

Silvan Glanzmann, Vorstandsmitglied des Vereins Tschutti Heftli

«Trotzdem war es aus unserer Sicht eines der schönsten ‹Tschutti Heftli› überhaupt», resümiert Glanzmann. Der Verein will denn auch für die Frauen-EM 2025, die in der Schweiz (unter anderem auch in Luzern) ausgetragen wird (zentralplus berichtete), ein Stickeralbum produzieren. Falls sich die finanzielle Lage bis dahin verbessern sollte. Für die Frauen-WM, die diesen Sommer in Australien und Neuseeland stattfindet, wird es immerhin einen kunstvoll illustrierten Spielplan als Poster geben.

Stickernummern statt Crowdfunding

Nach finanziell schwierigen Jahren musste sich der Verein Tschutti Heftli die Frage stellen: Aufhören oder eine Rettungsaktion starten? Ein herkömmliches Crowdfunding hätte wohl nicht zum kreativen Konzept gepasst. Stattdessen entstand folgende Idee: Alle Bildchen sind auf der Rückseite nummeriert. Genauso wie Fussballshirts, bei denen hinten Nummern, Namen, manchmal auch Sponsoren aufgedruckt sind. «Tschutti Heftli»-Fans können sich nun die Nummern auf den Rückseiten der Bildchen sichern und sich dort mit Name oder Firmenlogo verewigen. «Sie werden symbolisch Teil des ‹Tschutti Heftli›-Teams», sagt Silvan Glanzmann.

Rettungsaktion für das «Tschutti Heftli»: Die Nummer 34 sei noch frei. (Bild: zvg)

Jede Nummer gibt es nur einmal. Und ein paar sind bereits weg. «FCL-Goalietrainer Lorenzo Bucchi sammelt seit Jahren und hat sich seine Nummer bereits gesichert», so Glanzmann. Ebenso Mauro «Lustrigoal» Lustrinelli, der 2007 bis 2008 für den FCL seine Tore schoss. Auch Seraina Degen vom SRF sei eine langjährige Supporterin und habe ebenfalls eine Nummer ergattert.

Von Pussy Riot bis Pelé

Sie sind weder die einzigen noch die berühmtesten Prominenten, die mit dem «Tschutti Heftli» sympathisieren. So sassen in der Jury, die unter allen sich bewerbenden Künstlerinnen pro teilnehmendes Team jeweils eine auswählt, auch international bekannte Persönlichkeiten. Als 2018 Russland Austragungsort der Männer-WM war, landete «Tschutti Heftli» mit Nadeschda Tolokonnikowa, der Frontfrau von Pussy Riot, einen Coup (zentralplus berichtete). Vier Jahre zuvor konnte anlässlich der WM in Brasilien mit einem der grössten Fussballer aller Zeiten niemand Geringeres als Pelé gewonnen werden. Liebevoll nennt ihn Glanzmann «el Rey», den König.

Doch Promis für eine Kunstaktion zu gewinnen ist das Eine. Die ultrakritischen Fussballfans der hiesigen Fankurven zu überzeugen das Andere. Die Begeisterung für die Nationalmannschaften hält sich bei den aktiven Fans in Grenzen. «Trotzdem geniessen wir in den Fankurven, insbesondere auch in Luzern, Sympathien. Denn wir sind kreativ, alternativ und keine Fans des ‹modernen Fussballs› – genauso, wie sie auch.»

«Doch im Mittelpunkt soll die Freude am Fussball stehen. Und nicht die Zugehörigkeit zu einer Nation.»

Silvan Glanzmann, Vorstandsmitglied des Vereins Tschutti Heftli

Für die Lobbyarbeit auf der Allmend dürften sich auch Mitarbeiter der Luzerner Fanarbeit verantwortlich gezeigt haben. Der inzwischen als Sicherheitsmanager der Stadt Luzern tätige Christian Wandeler ist ebenso Vereinsmitglied wie Fabian Achermann, Leiter der Fanarbeit Luzern. Ob deren Einfluss bis nach Hamburg reicht, darf bezweifelt werden. Fakt ist aber: Selbst der Kultverein FC St. Pauli verkauft in seinem Fanshop «Tschutti Heftli».

Kreativ, alternativ und dem Nationalismus nahe?

Dass die Schweizer Fankurven wenig mit den Europa- und Weltmeisterschaften der UEFA und FIFA anfangen können, hat in erster Linie mit den kommerzialisierten, korrupten Strukturen dieser Turniere und Verbände sowie mit dem damit verbundenen «Ausverkauf der Fankultur» zu tun. Dass die Fussballspiele der Nationalmannschaften nicht nur ein fruchtbarer Nährboden für Geldmacherei sind, sondern auch Nationalisten und Faschisten eine Bühne bieten, ist eine weitere Tatsache, die auch Silvan Glanzmann mit Sorge beobachtet.

Er betont aber – genauso wie der Verein Tschutti Heftli in seinem Manifest – die verbindende Komponente des Fussballs. An den Endrunden träfen Fans verschiedenster Nationen aufeinander. Das führe zu bereichernden Begegnungen in den Fanzonen. «Doch im Mittelpunkt soll die Freude am Fussball stehen. Und nicht die Zugehörigkeit zu einer Nation.»

Darum sei das Sammelalbum zur EM 2020 so konzipiert gewesen, dass alle Stickers zwei Nummern hatten. So konnten Sammlerinnen die Spieler entweder nach Künstlern oder nach Nationen sortiert einkleben. «Damit wollten wir vermitteln, dass das Konstrukt von Nationen durchbrochen werden kann. Und ein Zeichen gegen Nationalismus setzen.»

Wie das Album zur EM 2024 aussehen wird, steht noch in den Sternen. Welche Namen oder Logos auf den Rückseiten der «Tschutti Heftli»-Bildchen stehen werden, ist bis auf die Obengenannten ebenfalls noch nicht bekannt. Für Spekulationen über mögliche Transfers zum «Tschutti Heftli»-Team stehen die Kommentarspalten offen.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Treffen mit Silvan Glanzmann
  • Webseite von «Tschutti Heftli»
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