Medi-Cocktails in Altersheimen

So viele Medikamente bekommen Alte in Zug und Luzern

Ungefähr 50’000 Betagte in der Langzeitpflege in der Schweiz nehmen neun oder mehr Wirkstoffe ein. (Bild: Symbolbild: Adobe Stock)

Viele Bewohnerinnen von Pflege- und Altersheimen nehmen mehr als neun Wirkstoffe gleichzeitig ein. Das birgt einige Risiken. zentralplus hat sich die Luzerner und Zuger Werte genauer angeschaut.

Immer mehr Leute in der Schweiz nehmen eine Vielzahl an Medikamenten gleichzeitig ein. Besonders die Menschen in Alters- und Pflegeheimen sind davon betroffen. Der Bund warnte kürzlich.

Mit der Zahl der Medikamente steigt nämlich auch das Risiko für gefährliche Wechselwirkungen, schreibt das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in einem Faktenblatt. Die sogenannte Polymedikation, also die Einnahme von neun oder mehr Wirkstoffen, könne zudem negative Auswirkungen auf die kognitiven Fähigkeiten haben.

Das könnte jedoch verhindert werden. 88 Prozent der Fälle, in denen Menschen aufgrund unerwünschter Medikamentenwirkungen ins Spital eingewiesen werden, seien laut einer Schätzung vermeidbar, sagt das BAG.

Neue Daten vom Bund zeigen nun, wie verbreitet die Polymedikation in den Pflegeheimen ist. Laut einer Hochrechnung vom «Tagesanzeiger» sind es in der Schweiz ungefähr 50'000 Betagte in der Langzeitpflege, die innerhalb von einer Woche neun oder mehr verschiedene Wirkstoffe einnehmen.

Am besten schneiden die Kantone Glarus und Appenzell Innerrhoden ab. 34,2 und 34,5 Prozent der Heimbewohner in diesen Kantonen haben zum Zeitpunkt der Messung im Jahr 2021 in den letzten sieben Tagen neun oder mehr verschiedene Medikamente eingenommen. Die höchsten Werte weisen Tessin und Freiburg auf. Dort sind es 49,2 und 49 Prozent der Bewohnerinnen.

So sieht die Lage in Luzern aus

Der Kanton Luzern liegt mit seinem Wert etwa im Mittelfeld der Schweiz. Wie die Heime die Medikamentenabgabe regeln, ist aber ganz unterschiedlich.

Das Elisabethenheim an der Luzerner Bruchmattstrasse weist kantonal den tiefsten Wert auf. Nur 18,2 Prozent der Bewohnerinnen nahmen zum Zeitpunkt der Messung in der vergangenen Woche neun oder mehr Medikamente ein. Das ist deutlich weniger als die Hälfte im Vergleich zum kantonalen und zum nationalen Durchschnitt. Das Heim schreibt auf Anfrage: «Uns ist es enorm wichtig, die verordneten Medikationen genau zu überprüfen.» Das Elisabethenheim wolle dafür sorgen, dass die Bewohner nur jene Medikamente einnehmen, welche zu einer bessern oder stabileren Lebensqualität beitragen.

Mit 25 Prozent weist das Heim im Bergli ebenfalls einen tiefen Wert auf. Unter anderem setze das Heim stark auf den persönlichen Bezug, heisst es auf Anfrager. Jede Fachperson habe die Medikamentenliste stets im Blick. «Wenn beispielsweise festgestellt wird, dass jemand schon länger Schmerzmittel einnimmt, wird versucht, diese zu reduzieren oder Medikamente abzusetzen, die nicht mehr benötigt werden», erklärt das Heim.

Psychiatrische Abteilungen treiben Wert in die Höhe

Das Heim Landgut Unterlöchli weist im innerkantonalen Vergleich mit 52,8 Prozent einen hohen Wert auf. Selbstverständlich seien sie sich der Wichtigkeit dieser Thematik bewusst, schreibt das Heim auf Anfrage. «Wir versuchen im Rahmen unserer Entscheidungsmöglichkeiten, darauf positiv Einfluss zu nehmen.»

Auch im Alterszentrum Willisau nahmen zum Zeitpunkt der Untersuchung verhältnismässig viele Bewohner (54 Prozent) neun oder mehr Medikamente ein. «Wir sind mit den zugewiesenen Ärzten in Abklärung und hinterfragen die Medikamente bei unseren Bewohnenden», erläutert das Heim. Das Alterszentrum spüre bereits klare Erfolge diesbezüglich. Doch wie erklärt sich die Institution den hohen Wert? Das Alterszentrum hat eine grössere psychiatrische Abteilung. Die Bewohner kämen direkt aus anderen Psychiatrien und seien auf die Medikamente angewiesen, die von dort vorgegeben werden.

So ist die Situation in den Zuger Heimen

Der Kanton Zug steht mit dem Wert von 38,3 Prozent im schweizweiten Vergleich ziemlich gut da. Nur in vier Kantonen nehmen weniger Atersheimbewohnerinnen und -bewohner neun oder mehr verschiedene Medikamente ein.

Die höchsten Werte im Kanton Zug verzeichnen dabei das Alterszentrum Büel sowie das Zentrum Frauensteinmatt. Bei ihnen nahmen zum Zeitpunkt der Untersuchung 53,1 und 48,1 Prozent der Bewohner einen grösseren Medikamenten-Cocktail ein.

«Dass die Zahl der sogenannten Polymedikation in unserem Haus zum Zeitpunkt der Datenerhebung offenbar höher war als anderswo, ist keinesfalls auf bewusste Vorgehensweisen oder gar eine Systematik hier bei uns im Haus zurückzuführen», erklärt das Alterszentrum Büel auf Anfrage. Je nachdem, welche Menschen gerade im Büel ihren letzten Lebensabschnitt verbringen, könne die Zahl tiefer oder höher liegen.

Das Zentrum Frauensteinmatt hat ebenfalls eine Erklärung für den hohen Wert parat. Wie das Alterszentrum Willisau verfügt auch das Zentrum in Zug über eine psychiatrische Abteilung. «Personen, welche eine oder mehrere psychische Erkrankungen aufweisen, brauchen eine speziell auf ihre Erkrankung abgestimmte Therapie», schreibt das Heim. Dies beinhalte auch die Abgabe von zusätzlichen Medikamenten. Ohne diese läge der Wert des Heims sogar deutlich unter dem Schweizer Durchschnitt, heisst es beim Zentrum Frauensteinmatt.

«So viel wie nötig und wirksam, so wenig wie möglich»

Am anderen Ende der Liste bewegen sich das Alterswohnheim Mütschi in Walchwil und das Pflegezentrum Baar. Im Mütschi nahmen lediglich 24,3 Prozent der Bewohnerinnen zum Zeitpunkt der Messung neun oder mehr Medikamente ein – im Pflegezentrum Baar waren es 24,7 Prozent. Diese Werte sind halb so hoch wie jene der Zuger Heime mit den höchsten Zahlen.

Die beiden Institutionen begründen ihre tiefen Werte mit einer regelmässigen Überprüfung der Medikamente. Das Heim Mütschi schreibt, bei ihnen gelte das Motto: «So viel wie nötig und wirksam, so wenig wie möglich.» Im Pflegezentrum im Baar würden Ärzte mit geriatrischer Expertise einmal wöchentlich eine Visite durchführen. Medikamente, die nicht mehr akut nötig sind oder potenziell schädliche Medikamente würde abgesetzt, schreibt das Pflegezentrum.

Die Frage nach der Schuld

Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass die Polymedikation schweizweit teils aus dem Ruder läuft? Max Giger war über 20 Jahre lang im Vorstand des Berufsverbands der Schweizer Ärzte und äussert sich gegenüber dem «Tagesanzeiger» zur Thematik: «Ich spreche nicht gerne von Schuld, lieber von Verantwortung. Bei der Polypharmazie sehe ich viel eher die Ärzteschaft in der Verantwortung als die Pflegefachpersonen.»

Oft fehle der Ärzteschaft das geriatrische Fachwissen, so Giger. «Die Altersmedizin kommt in der Aus- und Weiterbildung leider zu kurz», sage er gegenüber der Zeitung. Die Medikation älterer Menschen habe viele besondere Eigenheiten.

Beispielsweise sei die Nierenfunktion im Alter häufig eingeschränkt. So würden laut Giger viele Wirkstoffe verlangsamt ausgeschieden werden und erreichen eine zu hohe Konzentration im Blut: «Eigentlich würde deshalb oft schon ein Viertel der Tablette reichen. Trotzdem wird die ganze verschrieben.»

Fakt ist: Das Thema ist in den Zuger und Luzerner Heimen präsent. «Die Thematik beschäftigt uns», sagt der eine Heimleiter – «wir sind darauf sensibilisiert» ein anderer.

Verwendete Quellen
  • Studie «Medizinische Qualitätsindikatoren im Bereich der Pflegeheime» vom Bund
  • Faktenblatt vom Bund zur Polypharmazie
  • Schriftlicher Austausch mit den Pflegeheimen
  • Artikel vom «Tages Anzeiger»
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4 Kommentare
  • Profilfoto von Roland Grüter
    Roland Grüter, 23.04.2024, 18:09 Uhr

    Muss der Bereich Gesundheit in einem Wettbewerb ausarten. Kantone mit niedrigen Werten sind dann Sieger. Hauptsache den betreffenden Menschen gehr es gut, auch wenn die Verschreibung eine höhere Dosis fordert. Man kann auch nicht mit Diät usw. gewisse Gebrechen korrigieren.

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    • Profilfoto von Mathias
      Mathias, 24.04.2024, 13:13 Uhr

      Ja sicher, das grosse Übel sind die Psychiater und Hausärzte, es ist eine Katastrophe und Verbrechen wie die Medikamente an die Frau und den Mann gebracht werden. Auch in den Schulen bei Schüler nimmt dieses Problem drastisch zu…weiss wo von ich rede meine Frau "war" Lehrerin. Kriminell ist das Wort dazu…das wird sich ändern und dann fragt man wieso solche Prämien Kranknkasse, Mafia in Person Pharma

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    Sapperlotta, 23.04.2024, 12:50 Uhr

    Mit spezifischen Diäten (Gicht, Zucker, etc.) könnte man die Dosen reduzieren oder Tabletten vermeiden. Es gibt Institutionen gibt mit über 100 Bewohnern ohne Diätkoch, nicht einmal ein ausgewogenes vegetarisches Menu. Das Geschmackesempfinden wird durch Medikamente verändert und reduziert den Appetit. Das wirkt sich auch negativ aus.

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    • Profilfoto von Schmid Rita
      Schmid Rita, 24.04.2024, 10:49 Uhr

      So ist es auch in Internaten. Die Jugendlichen werden vollgestopft mit suchtabhängigen Medikamenten.. die ständig sexuellen Übergriffe unter den Teppich gekehrt.. Der Körper und die Sinne ausgeschaltet!

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