Luzerner Quartier im Wandel

So lebt man für 3300 Franken Miete an der Bernstrasse

Der Ausblick vom obersten Stock der neuen Wohnblocks reicht weit. (Bild: kok)

142 Wohnungen an der Bernstrasse sind quasi fertig. Darunter sind günstige und einige teure Exemplare. Ihre neuen Bewohner sollen für frischen Wind im verrufenen Quartier sorgen. Kann das klappen?

Plötzlich bleibt ein VW Sharan auf der schmalen Bernstrasse stehen. Ein Fahrer mit Vokuhila steigt aus, greift eine PET-Flasche mit Benzin aus dem Kofferraum und kippt sie in den Tank. Den Stau, den er verursacht, ignoriert er, ebenso den Lkw, der sich an ihm vorbeiquetscht. Dann röhrt der Motor des Pannenautos auf, und die Schlange löst sich auf.

An der Bernstrasse zu bauen, ist eine Herausforderung, weiss Peter Joller von der BG Matt. Er hat die Situation von der überdachten Loggia im vierten Stock eines Neubaus verfolgt. «Wir hätten einiges an Geld gespart, wenn dort unten nicht 40, sondern Tempo 30 gelten würde.» Dann wäre die Stadt beim Lärmschutz entspannter.

So aber mussten Lösungen her. Zum Beispiel türkise Glasscheiben, die die Loggia wie einen Vorhang schliessen. «Das ist ein Lärmschutz», erklärt ABL-Sprecher Benno Zgraggen. Er steht links neben Joller. Auch die Loggia selbst ist ein Lärmschutz: Weil sie ins Haus ragt und nicht nach aussen wie ein Balkon, schirmt sie den Autolärm ab.

Benno Zgraggen (links) und Peter Joller von den Baugenossenschaften. (Bild: kok)
Rechts der Zugang zur Loggia, die sich mit Glaswänden schliessen lässt. (Bild: kok)

Die Männer arbeiten für zwei Genossenschaften, die gemeinsam 142 Wohnungen und 9 Ateliers an der Bernstrasse bauen. Die Allgemeine Baugenossenschaft (ABL) ist die grösste gemeinnützige Wohnbaugenossenschaft der Zentralschweiz. Ihr gehören 80 Wohnungen in den drei Neubaublocks, den Rest vermietet die BG Matt. Im Mai sollen die ersten Mieter einziehen.

5,5 Zimmer im Attikageschoss kosten 3270 Franken Miete

Eine Führung durch die 2,5- bis 5,5-Zimmer-Wohnungen beweist: Der Lärmschutz ist gelungen. Sind die Fenster zu, sieht man die Lkw geräuschlos auf der Bernstrasse vorbeiziehen. Ein Frischluftsystem sorgt für gutes Raumklima. In den parkettgedeckten Zimmern der grösseren Wohnungen gibt es Küchenblocks.

An einem dieser Blocks lehnen die Männer jetzt. Sie befinden sich in einer 5,5-Zimmer-Wohnung mit zwei Bädern und 134 Quadratmetern Fläche. Ein Foto aus dem Fenster könnte es in jedes Architekturmagazin schaffen. 3270 Franken Miete kostet die Attikawohnung der BG Matt – inklusive Nebenkosten. «Wir haben Mitglieder, die solche Wohnungen suchen», meint Benno Zgraggen.

Benno Zgraggen in einer Attikawohnung im mittleren Wohnblock. (Bild: kok)

Und doch ist die Hälfte der 140 Wohnungen noch frei. Die ABL hat ihre 80 Wohnungen bereits zweimal unter ihren 15’000 Mitgliedern ausgeschrieben und seit Mitte Februar alle Wohnungen im Internet aufgeschaltet. Die Wohnungen gehen aber nur langsam weg – besonders die teuren.

Trotz Mietersuche ist noch die Hälfte der Wohnungen frei

Aktuell sind 17 4,5- und 5,5-Zimmer-Wohnungen der ABL verfügbar, nur drei sind vergeben. Sie kosten zwischen 2500 und 3500 Franken Miete. Von den 43 Wohnungen mit 3,5 Zimmern sind erst vier Einheiten vergeben. Ihre Miete beträgt zwischen 2000 und 2200 Franken. Die Nachfrage nach den 17 2,5-Zimmer-Wohnungen ist dagegen hoch. Sie kosten rund 1500 Franken pro Monat und sind fast alle vergeben.

Mehr Wohnungen hat die BG Matt losgebracht. Bei ihr muss man nicht Mitglied sein, um eine Wohnung zu mieten. Ausserdem sind ihre Einheiten ein wenig günstiger. Der Ausbau ist zwar identisch, doch der Baugrund gehört der Genossenschaft. Die ABL musste das Land von der Stadt Luzern im Baurecht übernehmen – und das schlägt auf die Mieten.

Knapper Wohnraum in Luzern ist ein Megathema wie in allen Schweizer Städten. Diese Woche hat die SP eine weitere Initative für bezahlbaren Wohnraum lanciert (zentralplus berichtete). Warum also landen 140 Wohnungen auf dem Markt und gehen nicht weg wie warme Weggli? Die Angelegenheit ist vielschichtig und hängt mit dem Ruf des Quartiers zusammen.

Im Quartier Bernstrasse ist der Verkehr das grösste Problem

Regen schlägt auf den aufgerissen Asphalt an der Bernstrasse in Luzern. Julia Rettenmund steht vor dem Quartier-Denner unter einem blauen Regenschirm. Sie verstummt zum x-ten Mal. Ein Lkw donnert an ihr vorbei und lässt die nasse Fahrbahn dröhnen. Dann setzt sie an.

«Klar, bei solchen Projekten steht das Wort Gentrifizierung im Raum», sagt die Geschäftsleiterin des Vereins Babel. Dabei zeigt sie auf die Neubauten, die wie Kreuzfahrtschiffe im grau-braunen Häusermeer stehen. «Wir haben aber grosse Hoffnung, dass die Überbauungen das Quartier aufwerten.»

Zwischen den Wohnbauten liegen grosse Aussenflächen. (Bild: kok)

Dann betritt sie die Baustelle und läuft zum künftigen Spielplatz. «Wir haben uns dafür eingesetzt, dass es im Erdgeschoss öffentliche Nutzungen gibt», sagt sie und blickt durch den Häusertunnel in Richtung Quartierplatz. Dort sollen ein Café, eine Physiotherapiepraxis und ein Tattoostudio einziehen. Noch schauen Leitungen aus den Wänden.

Die Aufwertung von Babel ist ein «Schweizer Leuchtturmprojekt»

Babel steht für Basel-/Bernstrasse – ein Luzerner Quartier mit schlechtem Ruf. Das einstige Arbeiterquartier liegt zwischen der Reuss und dem Gütsch. Seine Häuser sind baufällig, die Mieten tief, viele Bewohner haben Migrationshintergrund. Der untere Teil des Quartiers wird von Zügen zerteilt. Den oberen Teil zerschneidet die Bernstrasse.

Dort sind die Trottoirs so schmal, dass Julia Rettenmunds blauer Schirm auf die Fahrbahn ragt. «Der Verkehr ist das Hauptproblem hier», sagt sie am Strassenrand stehend. Ausserdem gebe es hier wenig. Ein leerer Laden, einst ein Erotikshop, einen Denner und eine Weinhandlung. Den Rest finde man unten in Luzern oder oben in Littau.

«Quartierentwicklung geht eben langsam.»

Julia Rettenmund

Die gebürtige Bündnerin kannte das Babel-Quartier, bevor sie nach Luzern kam. Beim Städteverband wurde die Initiative des Vereins, den sie heute leitet, als «Schweizer Leuchtturmprojekt» bezeichnet. Der Grund: Die Stadt und die Hochschule Luzern haben vor über 20 Jahren begonnen, das verrufene Quartier aufzuwerten. Mit öffentlichen Geldern.

Julia Rettenmund vor dem Büro des Vereins in der Baselstrasse. (Bild: kok)

Im Vereinsvorstand sitzen Vertreter der Stadt, Quartiervereine, Schulen und weitere Quartierorganisationen. Auch die ABL ist Vereinsmitglied, denn ihr gehören viele Wohnungen in der Gegend. Fragt man Julia Rettenmund nach Positivbeispielen im Quartier, spricht sie von einem Wandbild an der Dammstrasse (zentralplus berichtete). Und von einer kurzen Tempo-30-Zone auf der Bernstrasse.

Kürzlich hat sich der Verkehrsverbund VCS mit Anwohnern zusammengetan, um die Tempodrosselung auf die ganze Strasse auszuweiten (zentralplus berichtete). Hört man sich um, sind die Chancen dafür aber gering. Dass es an der Baselstrasse und Bernstrasse schöner werde, sei ein steiniger Weg, bestätigt die Politologin. «Quartierentwicklung geht eben langsam.»

Die Neubauten vertreiben keine Quartierbewohner

Entsprechend hoch ist der Druck auf die Neubauten. In einem Quartier mit stockender Entwicklung sind die modernen Wohnblocks eine echte Perspektive. «Unsere Überbauung hat eine Signalwirkung und wird die Entwicklung weiter beschleunigen», meint Benno Zgraggen von der ABL. Er steht am Küchenblock im Attikageschoss des mittleren Wohnblocks. Der Geruch von frischer Farbe liegt im Raum.

«Wenn alles immer gleich bleibt, kann sich ein Quartier nicht entwickeln.» Er ist überzeugt, dass auch andere Läden zurück in die Bernstrasse kehren, wenn sich der neue Quartierplatz mit Café etabliert hat. «Es kommen neue Menschen, das ist eine Chance für den Ort.» In einem der neun Ateliers werde zum Beispiel ein Microbierbrauer einziehen.

Der künftige Quartierplatz soll den Ort beleben. (Bild: kok)

Mit Gentrifizierung habe der Bau nichts zu tun. Denn vorher hätten rund 20 Menschen gelebt, wo jetzt 140 Wohnungen lägen. «Wir haben neuen und nachhaltigen Wohnraum geschaffen», sagt Zgraggen. Peter Joller von der BG Matt ergänzt: «Und wir sind in der Regel günstiger als ein professioneller Vermieter auf dem Markt.»

Dann zeigt Zgraggen aus dem Fenster auf drei Wohnblocks. Sie sind alt, haben grüne Fensterläden, gelben Putz und gehören ebenfalls der ABL. «Wir haben ein breites Spektrum an Mietpreisen in unserem Portfolio, die von sehr günstig bis teuer reichen. Und das soll auch so bleiben.» Aktuell erstelle die Genossenschaft eine Studie, wie sie mit ihren vielen Wohnungen im Quartier umgehen wolle.

Gegenüber der Neubauten besitzt die ABL weitere Gebäude. (Bild: kok)
Die Bauarbeiten für die drei Neubaublöcke sind fast abgeschlossen. (Bild: kok)

Die ABL erzielt keine Rendite, sondern vermietet nach Kostenmiete. Ausserdem steckt sie Geld in einen Erneuerungsfonds für zukünftige Sanierungen. Doch Wohnungen jenseits der 2000 Franken sind für viele Wohnungssuchende zu teuer. Ist das der Grund, warum noch Wohnungen übrig sind?

Drei Gründe, warum die Wohnungen nicht schneller weggehen

Neu gebaute Wohnungen seien nie günstig, meint Peter Joller von der BG Matt. Auch wegen der vielen Bauvorschriften. Ausserdem habe die Coronapandemie zu einer Verzögerung und einer Bauteuerung von mehr als zehn Prozent geführt. Ursprünglich hatte der Rahmenkredit eine Höhe von 66 Millionen Franken.

«Wir müssen die Qualitäten des Orts aufzeigen.»

Benno Zgraggen, ABL

Der ABL-Sprecher führt drei weitere Gründe an, warum noch Wohnungen verfügbar sind. Erstens müsse sich die Bernstrasse erst als Familienquartier etablieren. «Wir müssen den Ort bei unseren Mitgliedern bekannt machen und seine Qualitäten aufzeigen.» Das brauche eine gewisse Zeit.

Zweitens habe die ABL im vergangenen Jahr mit den Überbauungen Himmelrich und Obermaihof über 200 Wohnungen auf den Markt gebracht. Viele Genossenschaftler hätten also schon eine Wohnung in Luzern gefunden. Drittens hätten die ABL-Wohnungen an der Bernstrasse bisher nicht besichtigt können werden, weil die Blöcke nicht begehbar gewesen seien.

Das ändert sich nun. Dieser Tage finde die erste Sammelbesichtigung statt, und das Interesse sei gross, erzählt Zgraggen. Nach drei Tagen auf dem freien Markt seien schon 130 Anfragen eingetroffen. Auch die BG Matt könne ihre restlichen Wohnungen Stück für Stück vermieten, erzählt Peter Joller. Sobald die ersten Mieter im Frühsommer kämen, werde das weitere Personen anziehen. Das zeige die Erfahrung.

Verwendete Quellen
  • Treffen mit Julia Rettenmund, Geschäftsleiterin des Vereins Babel
  • Treffen mit Peter Joller von BG Matt und ABL-Sprecher Benno Zgraggen
  • Website der ABL zum Projekt an der Bernstrasse
  • Wohnungsfinder für die Überbauung an der Bernstrasse
  • Telefonat mit dem Quartierverein Bernstrasse
  • zentralplus Medienarchiv
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