Wer wohnt denn hier?

So lebt es sich im orangen Block direkt an der Reuss

Vorne am Fluss der orange Blockbau, dahinter das weisse Haupthaus. (Bild: zvg)

Das Reusshaus nahe der Geissmattbrücke in der Stadt Luzern kennen viele vom Sehen. Doch was geschieht hinter den Mauern mit den religiösen Symbolen? zentralplus hat einen Einblick erhalten.

An der Geissmattbrücke baut die Stadt Luzern einen neuen Park. Für eine kleine Gemeinschaft ist das ein grosser Erfolg. Sie lebt im Reusshaus, hat am Fluss einen Gemüsegarten und freut sich über das neue Grün vor ihrer Haustür. Doch wer sind diese Menschen?

Das Reusshaus besteht aus einem weissen Haupthaus an der Sankt-Karli-Strasse. Und einem orangen Blockbau am Fluss, an dessen Aussenwand und Flachdach ein weisses Kreissymbol prangt. Im Jahr 1893 gebaut, war das Anwesen lange eine Sennerei mit Rossstall. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs bauten die Besitzer den orangen Annexbau am Fluss. In den Nullerjahren befand sich darin eine Brockenstube, 2007 kaufte der Stadtluzerner Peter Jans das Grundstück.

Im verrufenen Quartier war das Reusshaus ein Schnäppchen

Damals war das Kleinquartier für Drogenkonsum und Randständige bekannt. Nebenan, wo heute das Restaurant Geissmatt liegt, befand sich eine Fixerstube. Noch heute liegt nebenan die Stadtmission. Den Eigentümern wurde die Situation zu unbequem, sie wollten das Reusshaus loswerden. Er habe das Flussgrundstück zu einem «sehr günstigen» Preis erhalten, sagt Jans bei einem Besuch auf die Frage, warum er kaufte.

Der gelernte Landwirt sanierte, vermietete die vier Wohnungen im Haupthaus, später schloss die Brockenstube altershalber. Noch Jahre später habe man ihm Mobiliar und Kleider vor die Tür gestellt, erzählt er lachend. Später sanierte Peter Jans auch den orangen Blockbau am Fluss und vermietete ihn ebenfalls.

Reusshaus
Stadtpfarrer Ruedi Beck (links) und Reusshaus-Besitzer Peter Jans auf dem Flachdach. (Bild: kok)

Etwa zeitgleich drückte jemand Ruedi Beck die Telefonnummer von Jans in die Hand. Der damalige Basler Pfarrer war auf Wohnungssuche, weil er einen Job als neuer Pfarreileiter von St. Leodegar in Luzern angenommen hatte. In Basel lebte Beck in einer Gemeinschaft. So etwas wollte er auch in Luzern finden. Peter Jans? Den Namen kannte er.

Jetzt sitzen die beiden Männer auf einer blauen Couch im Reusshaus, der eine feingliedrig und rasiert, der andere vollbärtig, und blicken sich an. Wie sie sich kennengelernt haben? Vor 30 Jahren muss es gewesen sein, Jans führte einen Bauernhof in Willisau, Beck war Vikar in Sursee. Sie tauschen Erinnerungen aus, kommen zu keinem Schluss.

Im orangen Haus fliesst die Reuss direkt an den bodentiefen Fenstern des Gemeinschaftsraums vorbei. Von innen sieht das spektakulär aus, wie acht sich bewegende Wandbilder. Von einem der Fenster führen die vier Stufen einer Leiter direkt in den Fluss. Beck steigt sie täglich hinab. Denn er wohnt hier.

Reusshaus
Der offene Wohnraum im orangen Haus am Fluss. (Bild: kok)

Im Jahr 2016 zog der neue «Stadtpfarrer» Beck – «so nennen mich nur die Medien» – ins Reusshaus. Er brachte zwei Theologen mit und gründete im orangen Haus am Fluss eine Wohngemeinschaft. Im ersten Stock wird gelebt, im Erdgeschoss sind Gemeinschaftsflächen. Er und seine Kollegen hätten bei dem mitmachen wollen, was da «am Entstehen» war, sagt Beck heute.

Glaube heisst, nicht nur Stutz geben, sondern mit anpacken

Was war denn am Entstehen? Ein christlicher Begegnungsort, in dem Glauben praktisch gelebt werde, sagt Jans. Für ihn bedeutet das: «Einer Hilfe suchenden Person auf der Strasse nicht nur fünf Stutz in die Hand drücken, sondern sie mit heimnehmen.» Kirche sei kein Servicebetrieb. Es gehe um Beziehungen und das Geben und Nehmen.

Wer wohnt denn hier?

In unserer losen Serie «Wer wohnt denn hier?» blickt zentralplus hinter verschlossene Türen oder Zäune von aussergewöhnlichen Häusern in Luzern und Zug. Vorgestellt werden jene Personen, die im Inneren wohnen.

Für den Landwirt, der 30 Jahre einen Hof führte, Häuser kaufte, sanierte und sich so Wohlstand aufbaute, ist Mitanpacken selbstverständlich. Auf das Flachdach und an eine Aussenwand hat er daher den Bruder-Klaus-Kreis gemalt. Er bedeute, «in Gott nach innen und aussen zu leben», sagt Jans. Ausserdem sehe man den Kreis gut auf Google Maps. Gratiswerbung.

Im Reusshaus gehen Menschen ständig ein und aus

Heute leben im Reusshaus 15 Personen, vier mit Beck im orangen Haus, die anderen in den vier Altbauwohnungen des Haupthauses. Darunter: Schweizer und Nichtschweizer, Familien, Alleinstehende, Flüchtlinge. Sie seien mehrheitlich christlich, ein Muslim sei auch dabei. So erzählen es Jans und Beck, die beide Katholiken sind.

Jans lebt nicht im Haus. Noch nicht. Sein erwachsener Sohn aber schon. Am Mittwochabend schleppt der junge Mann Sandsäcke auf die Terrasse, um seinem Sohn einen Sandkasten zu bauen. Im Hof rollt ein Handwerker im Auto an. Eine Musikerin packt in der Kapelle ihr Instrument aus. Ständig kommen neue Leute in die Gemeinschaftsküche von Becks WG und gehen wieder.

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Eine der vier Altbauwohnungen im Haupthaus, mit Peter Jans, seinem Sohn und seinem Enkel. (Bild: kok)
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Der Innenhof in Richtung Sankt-Karli-Strasse. (Bild: kok)

Auch Obdachlose werden aufgenommen. «Aber nicht wie in einem Sozialprojekt. Wir leben mit ihnen», sagt Jans. Beck dreht sich zu ihm und erzählt, er habe kürzlich einen ehemaligen Bewohner gesehen, der wieder auf der Strasse sei. Ein Misserfolg? «Nein, keinesfalls. Auch er lebt gut und hat sich dafür entschieden», findet Beck.

Velo teilen, gemeinsam arbeiten, christlich sein – das ist das Ziel

In Becks WG im Reusshaus mit der Gemeinschaftsküche kauft jeder ein und nimmt sich, was vorhanden ist. So unterstützen die, die mehr verdienen, jene mit weniger Geld. Alles sei sehr gemeinschaftlich, sagt der Pfarrer. Ob sie eine christliche Kommune sind? Der Begriff gefällt ihm nicht. «Nennen wir es eine Wohngemeinschaft.»

Im Haupthaus mit den vier separaten Wohnungen solle die «Verbindlichkeit» gestärkt werden, sagt Jans. «Velo teilen, mindestens vier Stunden pro Woche für die Gemeinschaft tätig sein, gemeinsam den christlichen Weg gehen.» So stehe es auf einem neuen Zettel für Interessenten. Denn die günstigen Wohnungen würden auch Leute anziehen, die nicht an Gemeinschaft interessiert seien. Sie sollen vorher wissen, worauf sie sich einlassen.

Gemeinschaft im Reusshaus will keine Freikirche sein

Aus dem gemeinsamen Wohnen ist ein Verein entstanden. «Wir begannen, dienstags öffentliche Gottesdienste und Abendessen zu veranstalten», sagt Beck. Sie finden in der hauseigenen Kapelle statt. Heute organisiert der Verein Gartenprojekte, Grillfeste, Arbeitseinsätze, Gottesdienste, eine Männergruppe, Trauerfeiern, Musikevents, Sprachkurse. Und im Herbst zieht ein Kinderhort ein.

Peter Jans blättert durch die bunten Fotografien, die er zum Treffen mitgebracht hat. Darauf Menschen, jung, alt, schwarz, weiss, Männer, Frauen, Kinder. Alle lachen, sind aktiv, pure Idylle. Von Freikirchen unterscheide sich das Projekt deutlich, sagen die beiden Männer. Die Arbeit des Vereins ruhe auf dem theologischen Fundament der Landeskirche.

Reusshaus
Ein gemeinsames Abendessen in der Kapelle, die auch ein Mehrzweckraum ist. (Bild: zvg)
Reusshaus.
Gemeinsame Arbeit im Garten an der Reuss. (Bild: zvg)

Ihre Gemeinschaft sei nur kleiner, direkter, gemeinschaftlicher als in den grossen Kirchgemeinden. «Die Idee ist zu expandieren», sagt Jans dann. Sie würden weitere Wohnungen im Quartier suchen, andere Menschen, die in der Nähe wohnen, seien «eng mit ihnen verbunden». Etwa 200 Personen sollen sich im E-Mail-Verteiler des Vereins befinden.

Im Reusshaus werden «Kirchengründer» ausgebildet: Was heisst das?

Gemeinsam mit Theologen und Kirchenoberen aus der Schweiz und Deutschland hat Beck vor fünf Jahren auch noch ein Institut gegründet: das Reuss-Institut. Sein Logo prangt an der Fassade, im Haus am Fluss befindet sich ein Büro. Wenn der Stadtpfarrer über das Institut spricht, holt er aus, seine Augen strahlen.

Das ökumenische Institut bietet dreijährige Aus- und Weiterbildungen zu Kirchenentwicklern und Kirchengründern an. Will Beck die Schüler etwa in die Welt schicken, damit sie neue Kirchen gründen? Nicht Kirchen, aber Gemeinschaften, erklärt er.

Der Grund: «Immer weniger Menschen engagieren sich in den traditionellen Kirchgemeinden. Aber viele sind trotzdem an Gemeinschaft und Religion interessiert. Es ist viel leichter, sie in neue Gemeinschaften einzugliedern. Denn junge Leute wollen lieber etwas selbst gestalten.» Davon ist der langjährige Kirchenobere überzeugt. Diesen Sommer werden die ersten sieben Studenten ihre Ausbildung abschliessen.

Stadtpfarrer legt auf eigene Faust los: Wie kommt das an?

Ein Katholik, der aus Basel nach Luzern kommt, Stadtpfarrer wird und vorschlägt, kleine Gemeinschaften zu gründen und sich nicht nur in den grossen Kirchgemeinden zu engagieren? Und das, ohne die katholischen Kirchenoberen zu fragen. Peter Jans ist sich sicher: «Vor 20 Jahren wäre das ein Skandal gewesen.»

Beck sieht es ähnlich. «Die Toleranzgrenze heute ist höher.» Die aktuelle Sozialform der Kirche gehe – in unseren Breitengraden – dem Ende entgegen. Sein Engagement werde daher akzeptiert. «Viele denken: Wenigstens versucht jemand etwas.» Vergangenes Jahr ist Beck als Pfarreileiter zurückgetreten, bleibt bis zu seiner Pension aber Leitender Priester in der Hofkirche (zentralplus berichtete).

In einer Zeit, in der die katholische Kirche wegen Missbrauchsfällen für Schlagzeilen sorge, sei der Nachwuchs sehr unsicher, sagt Ruedi Beck zum Schluss. «Junge Leute fragen sich, in was für eine Institution sie dort eintreten. Ich sage dann, die Kirche hat viel Gutes geschaffen. Spitäler und Schulen zum Beispiel. Sie hat aber auch viele Schlagseiten», findet Beck. «So wie alles im Leben.»

Verwendete Quellen
  • Website des Reusshauses
  • Treffen mit Ruedi Beck, Mitgründer des Reuss-Institutes und Bewohner
  • Treffen mit Peter Jans, Besitzer des Reusshauses
  • Website des Reuss-Institutes
  • Augenschein vor Ort
  • zentralplus-Medienarchiv
  • Website der Stadt Luzern zur Auswertung Geissmattpark
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