Was läuft im Rösslimatt-Quartier?

Das ist Luzerns Mini-Favela

Zu Luft statt zu Wasser: Ein verwaistes Pedalo auf dem Rösslimatt-Areal. (Bild: ewi)

Das Luzerner Rösslimatt-Quartier ist stark im Umbruch – bis auf einen schmalen Streifen, an dem jegliche Entwicklung scheinbar vorbeiging.

Citybay heisst die Überbauung im Süden des Luzerner Bahnhofs. Das klingt mondän, nach Grossstadt. Citybay lässt an London, Miami oder Singapur denken.

Nur ein Steinwurf von der Citybay entfernt liegt ein anderer spezieller Stadtteil. Doch dieser lässt weniger an London, sondern an Rio de Janeiro denken. Nicht an den schönen Teil Rios, nicht an die Copacabana. Sondern an die Favelas, die Wellblechsiedlungen an den Rändern der Stadt, wo die arme Bevölkerung der Grossstadt wohnt.

Holzschopf, Wellblech und unzählige Parkplätze

Hier auf einem schmalen Streifen zwischen dem Konzerthaus Schüür und der Citybay reihen sich zahlreiche kleinere Gebäude nebeneinander. Bei den meisten davon handelt es sich bloss um einen Holzschopf, überdacht mit einem rostigen Wellblech. Dazwischen stehen vereinzelte Gebäude aus Stein sowie einige Baucontainer, welche zumindest äusserlich nicht minder in die Jahre gekommen sind.

Die Gebäudeansammlung wirkt völlig zufällig, als wären die einzelnen Baracken einfach gerade dort gebaut worden, wo es gerade Platz hatte. Zwischen den Gebäuden entsteht dadurch ein verwinkeltes System an Gässchen, die meisten davon enden letztlich in einer Sackgasse, irgendwo vor einem verschlossenen Garagentor.

Was auf diesem Streifen besonders ins Auge fällt, ist die hohe Zahl der Parkplätze. Grob geschätzt sind es wohl rund 200 Parkplätze auf einem Areal, kaum grösser als ein Fussballfeld. Doch längst nicht auf allen davon stehen Autos. Viele davon werden als Bootsabstellplätze genutzt. Irgendwo steht auf einem drei Meter hohen Gerüst ein verwaistes Pedalo.

Bei den meisten dieser Baracken ist zwar ersichtlich, von wem und wozu sie genutzt werden. Und ein Blick durch die Fenster beweist, dass hier zahlreiche Menschen ihr Atelier oder ihre Werkstatt betreiben. Doch treffen wir auf unserem Rundgang durchs Areal kaum eine Menschenseele an. Irgendwie wirkt es so, als hätten alle das Gebiet vor langer Zeit fluchtartig verlassen und seien seither nie mehr zurückgekehrt.

Der Stadt waren die Hände gebunden

Wie kann es sein, dass eine solche Siedlung an dieser zentralen Lage Bestand hat, während links und rechts Neubauten in die Höhe wachsen? Von Verdichtung ist hier weit und breit nichts zu sehen. Ein Fall städtebaulichen Versagens?

So einfach ist es nicht. Denn die Stadt hat den schmalen Streifen im Rösslimatt-Quartier im Visier. Nur waren ihr bisher die Hände gebunden. Denn der Streifen liegt in einer Bauzone, mit dem Zweck, den Raum für die ehemals geplante Spange-Süd freizuhalten. Zur Erinnerung: Die Spange-Süd sollte das Tribschen-Quartier direkt und grösstenteils unterirdisch mit dem Autobahn-Anschluss in Kriens verbinden. Die neue Strasse hätte über das Schüür- und Rösslimatt-Gebiet geführt. Allerdings beschloss der Kanton 2021, das Projekt nicht mehr weiterzuverfolgen, weil er es nicht mehr als zeitgemäss erachtete (zentralplus berichtete).

Deborah Arnold, Co-Leiterin Stadtplanung erklärt: «Es handelte sich somit um eine Art ‹Freihaltekorridor›. Entsprechend erfolgten in den vergangenen Jahren auch keinerlei weitere Planungen und Entwicklungen. Da die Spange Süd nun nicht mehr weiterverfolgt wird, wird die Zweckbestimmung auf die künftig angestrebte Nutzung bereits angepasst.»

Mit dem Durchgangsbahnhof kommt der grosse Umbruch

Langfristig bestehen also schon Pläne für das Gebiet. Denn das Gesicht des Rösslimatt-Quartiers wird sich massiv verändern. Heute ist es ein vorwiegend industriell genutztes Areal, die Abstell- und Rangiergleise des Bahnhofs sind das dominierende Element und beanspruchen mehr als fünf Hektar Raum (zentralplus berichtete). 2050 hingegen wird es ein belebtes Wohn-, Büro- und Universitätsquartier sein.

«Die Idee ist, dort einen Grünstreifen, den sogenannten Rösslimatthain umzusetzen.»

Deborah Arnold, Co-Leiterin Stadtplanung

Die ersten Bauarbeiten dazu haben schon vor mehreren Monaten begonnen. Auf drei Baufeldern entstehen voraussichtlich bis 2025 ein Neubau der Hochschule Luzern sowie zwei Bürogebäude des Pharmakonzern MSD (zentralplus berichtete). Die Barackensiedlung wird dies aber noch nicht betreffen. Deborah Arnold führt aus: «Die Umsetzung des Konzepts Rösslimatt erfolgt in Etappen und über einen sehr langen Zeitraum, dies insbesondere daher, da das Gleisareal betrieblich noch genutzt wird und auch beim Bau des Durchgangsbahnhofs als Installationsfläche dient.»

Die Baufelder A, B und C werden bis 2025 bebaut. Die Baufelder D bis F erst nach Fertigstellung des Durchgangsbahnhofs. Dann soll auch der Rösslimatthain entstehen. (Bild: Stadt Luzern)

Erst wenn der Durchgangsbahnhof gebaut ist, werden auch die restlichen Gleisflächen frei. Auf drei weiteren Baufeldern entstehen dann zusätzliche Neubauten. Dann geht es auch den Baracken nördlich der Schüür an den Kragen: «Die Idee ist, dort einen Grünstreifen, den sogenannten Rösslimatthain umzusetzen. Eine detailliertere Planung zur Umsetzung des Rösslimatthains gibts es zum aktuellen Zeitpunkt nicht, da noch unklar ist, wann das Gebiet dereinst wirklich zur Verfügung steht», sagt Arnold. «Für die vollständige Umsetzung des Konzepts wird es zu einem späteren Zeitpunkt zur Bebauung der Gleisflächen nochmals eine Umzonung brauchen.»

Von wegen verwahrlost und verlassen

Zukunftsmusik. In der Gegenwart haben wir mittlerweile einen Handwerker getroffen, der hier seine Werkstatt betreibt. «Das ist schon ein spezielles Gebiet und ich glaube, vielen Luzernern gefällt das. Aber nicht allen. Und das ist das Problem.» Er sieht einen Streit um den Boden mit der Stadt auf sich zukommen und will sich darum nicht weiter zum Thema äussern.

Einige Meter später stossen wir auf einen weiteren ansässigen Handwerker. Er habe seine Werkstatt seit 30 Jahren hier und sei darum mit dem Areal sehr verbunden – müsse jetzt aber dringend los. Ähnlich klingt es um die nächste Ecke, wo ein Mann ein Stück Styropor bearbeitet. Er würde sehr gerne über den Streifen sprechen, sei heute und morgen aber «total im Seich».

Wir geben auf und bilanzieren: Das Areal wirkt zwar auf den ersten Blick verlassen und verlottert. Auf den zweiten Blick läuft hier aber viel. Heute wie morgen. Oder wie man in London dazu sagen würde: Alles ist «very busy».

Verwendete Quellen
  • Schriftlicher Austausch mit Deborah Arnold
  • Besuch und Gespräche vor Ort
  • Website Rösslimatt-Projekt
1 Kommentar
Apple Store IconGoogle Play Store Icon