Flora Colledge

Sie forscht zu Sportsucht – und ist selbst Profi-Triathletin

Flora Colledge trainiert derzeit für den härtesten Triathlon der Welt. (Bild: zvg)

Flora Colledge hat einen Doktortitel in Bioethik, trainiert derzeit in St. Moritz aber noch für ein anderes Ziel: den Norseman, den härtesten Triathlon der Welt. Was ihre Forschung in Sportsucht mit Triathlon zu tun hat, erzählt sie im Interview.

Die Sonne scheint in St. Moritz. Es ist 7 Uhr. Flora Colledge isst Haferflocken und verdrückt vier Rühreier. In wenigen Minuten springt sie ins kalte Bergseewasser. Sie schwimmt zwei Kilometer. Dann trocknet sie sich ab. Zieht sich kurz um und steigt auf ihr Fahrrad. So läuft es meistens ab, wenn sich Colledge an einem dieser warmen Sommermorgen auf den härtesten Triathlon der Welt vorbereitet: den Norseman.

Nach dem Mittagessen ist Erholung angesagt. Oder das Korrigieren von Klausuren. Denn Colledge ist nicht nur Profi-Athletin, sondern auch Forscherin an der Universität Luzern. Mit einem besonderen Fokus auf Sportsucht. zentralplus hat die 37-Jährige gefragt, was ihr eigener sportlicher Hintergrund mit Sportsucht zu tun hat und weshalb sie sich mit dem Thema befasst.

zentralplus: Flora Colledge, Sie sind Profi-Athletin und Forscherin mit Schwerpunkt im Bereich Sportsucht: Beisst sich das nicht?

Flora Colledge: Keineswegs. Als Profi-Athletin muss ich immer wieder meine Grenzen ausloten. Auch ich habe Trainings, die keinen Spass machen. Dann sage ich jeweils, dass auch das dazugehört und es manchmal weh tun muss. Dort schneidet sich vielleicht auch meine Leidenschaft zum Triathlon mit meiner Forschung zur Sportsucht. Eines der Erkennungsmerkmale eines Sportsüchtigen ist die Tatsache, dass Sport keinen Spass mehr macht.

zentralplus: Mit Triathlon haben Sie eher spät, mit 28 Jahren, begonnen. Wie sind Sie dazu gekommen?

Colledge: Als Teenager fand ich Wettkämpfe doof. Das ging so lange weiter, bis ich während meiner Studienzeit damit begonnen habe, bei Lauftrainings mitzumachen. Da hat es mich gepackt und ich wollte wissen, wie weit ich damit kommen kann. Mein Körper machte aber nicht lange mit. Ich kämpfte mit zahlreichen Verletzungen, musste in der Reha immer wieder auf das Fahrrad ausweichen oder schwimmen. Plötzlich dachte ich mir: Wieso eigentlich nicht eine Kombination aus allen drei?

zentralplus: Und dann sind Sie beim Triathlon gelandet. Hat man als Triathletin eigentlich so etwas wie Vorbilder?

Colledge: Eher weniger. Aber auch hier gibt es Ausnahmeathletinnen, die mich faszinieren. Sie schaffen es beispielsweise immer wieder, Sport und Arbeit unter einen Hut zu bringen. Caroline Steffen hat mich beispielsweise motiviert, mit Triathlon zu beginnen, weil ich einen ähnlichen Körperbau habe – 1,78 Meter – und wir beide nicht extrem muskulös sind. Trotzdem hat sie es geschafft, immer wieder Spitzenleistungen zu erbringen.

«Ich riskiere wenig, laufe oft in der zweiten Reihe, um alle Risikofaktoren auszuhebeln. Man könnte also auch sagen, dass ich etwas mutiger sein könnte.»

zentralplus: Gibt es Momente, in denen Sie an Ihre Grenzen kommen?

Colledge: Ich bin ein sehr zielstrebiger und ambitionierter Mensch. Ein Berufskollege hat einmal zu mir gesagt, dass ich in einem früheren Leben vermutlich ein Eichhörnchen gewesen sein muss. Weil ich nicht ruhig stillsitzen kann. Gleichzeitig bin ich aber auch ein eher ängstlicher Mensch. Ich riskiere wenig, laufe oft in der zweiten Reihe, um alle Risikofaktoren auszuhebeln. Man könnte also auch sagen, dass ich etwas mutiger sein könnte. Und ich leide ganz klar auch ein bisschen am berüchtigten «Impostor-Syndrom».

zentralplus: Das Hochstapler-Syndrom: Sie fühlen sich also trotz Ihres Erfolgs unzulänglich?

Colledge: Ja, genau. Wenn ich beispielsweise ein gutes Resultat erzielt habe, verspüre ich nicht immer diese typische Freude und Erleichterung. Und wenn mein Resultat schlecht war, dann bestätigt es mir das, was ich vorher bereits vermutet habe: dass ich nicht so gut bin, wie ich dachte.

zentralplus: Ist das auch ein Erkennungsmerkmal einer Sportsüchtigen?

Colledge: In erster Linie forsche ich in diesem Bereich, weil es bisher noch sehr wenig hochwertige Forschung dazu gibt, aber viele Menschen darunter leiden. Ein klinisches Bild der Störung im Hinblick auf die Sportsucht fehlt aber nach wie vor. Es gibt noch keine Bestätigung der Diagnose auf der Seite der Forschung. Entsprechend vielfältig sind auch die Erkennungsmerkmale.

Flora Colledge. (Bild: zvg)

zentralplus: Betrachtet man andere Suchtkrankheiten, würden Sie sagen, dass es einen Zusammenhang oder ähnliche Erkennungsmerkmale mit denjenigen der Sportsucht gibt?

Colledge: Die gibt es durchaus. Wenn ein Mensch Sport macht, hat das eine bereichernde Wirkung. Man weiss inzwischen schon länger, dass bei einem Menschen, sobald ihm etwas gefällt, das Risiko steigt, dass er süchtig wird. Das ist bei Drogen genauso wie beim Sport. Was wir bisher festgestellt haben, ist die Tatsache, dass bei einem Sportsüchtigen oft auch eine psychische Störung diagnostizierbar ist. Es besteht also oft eine Überlappung. Ich versuche mit meiner Forschung eine Brücke zu schlagen zwischen der Sportpsychologie und der Sportmedizin. Denn bei Sportsüchtigen ist es gut möglich, dass ein sogenanntes Übertrainingssyndrom» vorhanden ist.

«Sportsüchtige machen Sport vor allem deshalb, weil sie sich dazu gezwungen fühlen.»

zentralplus: Können Sie das etwas genauer erklären?

Colledge: Sportsüchtige machen Sport vor allem deshalb, weil sie sich dazu gezwungen fühlen. Das heisst beispielsweise, dass sie auch in ein Fitnessstudio gehen, wenn sie krank sind. Das ist bei nicht sportsüchtigen Sportlern ganz anders. Da setzt zuerst das Bewusstsein ein, zuerst wieder gesund werden zu müssen.

zentralplus: Ist das bei Profi-Sportlern nicht auch so?

Colledge: Nein, Profi-Sportler trainieren oft nach Zyklen. Bevor sie an einem Wettkampf teilnehmen, intensivieren sie oft den Trainingsaufwand, ehe sie diesen kurz vor dem Wettkampf wieder reduzieren. Nach dem Wettkampf steht die Regeneration im Zentrum. Das ist bei Sportsüchtigen nicht der Fall. Dort ist der Trainingsaufwand konstant hoch, teilweise wird er sogar noch intensiver.

zentralplus: Welche diagnostischen Begleitungen gibt es, wenn eine Sportsucht diagnostiziert wird?

Colledge: Bisher gibt es dazu leider keine Listen oder Kompendien. Ein Sportsüchtiger oder eine Sportsüchtige haben zwar die Möglichkeit, sich psychologische Hilfe zu holen, das zahlen sie aber aus dem eigenen Portemonnaie. Das ist bei einer Sex- oder einer iPhone-Sucht heute auch so. Einzig die Spielsucht ist als solche anerkannt. Das war vor 20 Jahren bei einem Burnout auch so. In dieser Lücke siedelt sich meine Forschung an.

zentralplus: Wie viele Personen leiden in Luzern eigentlich an einer Sportsucht?

Colledge: Das ist schwer zu sagen. Wir gehen heute davon aus, dass unter 1000 sporttreibenden Menschen einer ist, der sportsüchtig ist. Dabei gibt es keine grossen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Wobei Männer tendenziell anfälliger sind. Interessanterweise sind es nicht die Jungen, die eher mit einer Sportsucht kämpfen, sondern Personen mit einem Durchschnittsalter von 38 Jahren. Oft leiden sie seit Jahren an dieser Sucht.

zentralplus: Gibt es Früherkennungsmerkmale, wie man Menschen mit Sportsucht im Umfeld erkennen kann?

Colledge: Betroffene leiden oft unter einem täglichen Zwang, Sport auszuüben. Sie haben oft auch ihre Emotionen nicht im Griff, sind regelmässig krank, weil ihr Immunsystem geschwächt ist, und pflegen eher wenige soziale Kontakte.

zentralplus: Können Folgeschäden nach jahrelanger Sportsucht diagnostiziert werden?

Colledge: Es gibt sie, aber sie sind (noch) nicht diagnostizierbar. In erster Linie haben Männer wie Frauen durch das hohe Trainingspensum ein geschwächtes Immunsystem. Man ist also anfälliger auf Krankheiten. Bei Männern ist zudem der Hormonhaushalt längerfristig gestört, das führt zu Schlafproblemen und Müdigkeit. Bei Frauen kommt es oft zu einer geringeren Knochendichte. Diese nimmt mit 30 Jahren sowieso kontinuierlich ab. Wenn Frauen sportsüchtig sind, werden sie noch anfälliger, sich bei Stürzen etwas zu brechen.

«In den letzten Jahren habe ich auch gelernt, dass ein 2. oder 3. Platz ebenfalls als Erfolg gewertet werden darf.»

zentralplus: Welchen Einfluss haben soziale Medien in Bezug auf Sportsucht?

Colledge: Es ist schwierig, einen Zusammenhang festzumachen. Fakt ist aber, dass soziale Medien das Problem präsenter machen, indem sie uns oft ein falsches Bild von Körperlichkeit vermitteln, das immer wieder vor unserem inneren Auge erscheint. Dann kann es vorkommen, dass man etwas hinterherjagt, das es so eigentlich gar nicht gibt, und das Suchtpotenzial wird erhöht.

zentralplus: Welche Ziele verfolgen Sie als Sportlerin und Forscherin?

Colledge: Ich möchte mich von Jahr zu Jahr verbessern und als Triathletin Wettkämpfe gewinnen. In den letzten Jahren habe ich aber auch gelernt, dass ein 2. oder 3. Platz ebenfalls als Erfolg gewertet werden darf. Ich bin diesbezüglich liebevoller mit mir selbst geworden. Und als Forscherin möchte ich diese angesprochene Lücke schliessen.

Verwendete Quellen
  • Video-Telefonat mit Flora Colledge
0 Kommentare
Apple Store IconGoogle Play Store Icon