Zugerin über Renten-«Bschiss»

Warum «Vorsorge-Steffi» vehement gegen die BVG-Reform ist

«Vorsorge-Steffi» will insbesondere Frauen motivieren, sich um ihre Finanzen im Alter zu kümmern. (Bild: ida)

In einer Woche stimmt die Schweiz über die umstrittene BVG-Reform ab. Befürworter sprechen von notwendiger Anpassung, Kritikerinnen warnen vor Rentenkürzungen. Die Zugerin Stephanie Köllinger erklärt, warum sie die 2. Säule gar abschaffen möchte.

Am 22. September stimmt die Schweiz über die BVG-Reform ab. Also eine Änderung des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG). Die Vorlage ist so kompliziert wie der Name des Gesetzes selbst. Sogar Politikerwissenschaftlerinnen können nicht wirklich sagen, wer die Gewinner und wer die Verliererinnen sind. Die Zugerin Stephanie Köllinger, die in den sozialen Medien als «Vorsorge-Steffi» bekannt ist, bringt Licht ins Dunkel.

zentralplus: Wer die Abstimmungsunterlagen zur BVG-Reform liest, dem brummt schnell der Kopf. Warum ist sie nötig?

Stephanie Köllinger: Ob es diese braucht, ist eine Frage der Perspektive. Wir werden immer älter und beziehen für eine längere Zeit eine Rente. Es kommt aktuell häufig vor, dass Seniorinnen in Form einer Rente mehr Geld aus der Pensionskasse beziehen, als sie ursprünglich einbezahlt haben. Daher findet bei vielen Pensionskassen eine nicht vorhergesehene Quersubventionierung von Jung zu Alt statt. Der Kernpunkt der Reform ist daher die Senkung des Umwandlungssatzes, was zu tieferen Renten führt. Je nach Situation bedeutet dies, dass man mehrere Tausend Franken weniger Rente pro Jahr bekommt.

zentralplus: Der Bund hat dafür Ausgleichsmassnahmen erarbeitet, unter anderem auch die Rentenzuschläge.

Köllinger: Jedoch würden unglaublich viele Personen einen Rentenzuschlag erhalten, die gar nicht von einer Rentenkürzung betroffen wären. Das ist aus meiner Sicht ein grosses No-Go dieser BVG-Reform. Pensionskassen sagen, sie müssten sparen – würden dann jedoch mehrere Milliarden Franken in Form von Rentenzuschlägen über Jahrzehnte hinweg verschenken. Je nach Pensionskasse kann es sein, dass Erwerbstätige diese sinnlosen Milliarden mitfinanzieren müssen.

Darum gehts bei der BVG-Reform

Wichtig vorab zu wissen: Es geht nur um den obligatorischen Teil der beruflichen Vorsorge. Bei der BVG-Reform stehen fünf Punkte an:

  • Die Senkung des Umwandlungssatzes: Dieser bestimmt, wie viel jemand monatlich von seiner angesparten Rente erhält. Er soll von 6,8 auf 6 Prozent sinken. Auf 100’000 Franken Kapital gäbe es somit nur noch 6000 statt wie bisher 6800 Franken Rente pro Jahr. Dies ist die einschneidendste Massnahme, denn sie hätte Rentenkürzungen zur Folge.
  • Die Senkung der Eintrittsschwelle: Das führt dazu, dass mehr Personen in der Pensionskasse versichert sind. Heute liegt die Eintrittsschwelle bei 22’050 Franken, jetzt soll sie auf 19’845 Franken gesenkt werden. So wären Teilzeitarbeiter schneller in der Pensionskasse versichert.
  • Die Senkung des Koordinationsabzugs: Bis anhin wurde vom Bruttolohn der Koordinationsabzug abgezogen, etwas mehr als 25’000 Franken. Anhand des verbleibenden Betrags wurde der Beitrag in die Pensionskasse berechnet. Dieser fixe Abzug würde mit der BVG-Reform auf 20 Prozent des Bruttolohns reduziert werden. Das bedeutet, dass wir alle mehr in den obligatorischen Teil der Pensionskasse einzahlen würden. Diese Regel gilt für Löhne bis zum aktuellen BVG-Maximallohn von 88’200 Franken. Lohnanteile über diesem Betrag sind gar nicht im BVG versichert. 
  • Die Anpassung des Beitragssatzes: Dies führt dazu, dass ältere Arbeitnehmende nicht mehr so massiv teurer sind als jüngere. Heute wird ab 25 Jahren in der Pensionskasse gespart, der Beitragssatz wird alle zehn Jahre erhöht. Arbeitnehmer und -geber zahlen mit zunehmendem Alter also mehr in die Pensionskasse ein. Eine junge Person zwischen 25 und 34 Jahren zahlt aktuell 7 Prozent ein, eine Person zwischen 55 und 65 Jahren zahlt 18 Prozent ein. Da der Arbeitgeber die Hälfte übernimmt, haben Ältere schlechtere Karten auf dem Arbeitsmarkt. Künftig soll es nur noch zwei Beitragssätze geben.
  • Lebenslange Rentenzuschläge für Personen, die in den nächsten 15 Jahren nach Inkrafttreten der BVG-Reform pensioniert werden und weniger als 441’000 Franken in ihrer Pensionskasse angespart haben.

zentralplus: Wer würde denn von der BVG-Reform profitieren?

Köllinger: Es ist schwer zu sagen, wer von der Reform wirklich profitieren und wer verlieren würde. Nicht einmal die Pensionskassen können Auskunft darüber geben, wie sich die individuelle Situation von Versicherten bei einem Ja verändern würde. Und sobald man die Arbeitsstelle wechselt, steht man wieder vor einer vollkommen anderen Ausgangslage. Aus meiner Sicht profitiert die Finanzbranche, denn sie können noch mehr Gelder verwalten, und die Verlierer sind zu einem Grossteil die Versicherten, denn sie bezahlen mehr Geld ein und erhalten weniger zurück.

zentralplus: Dann sehen auch Sie die BVG-Reform als «Bschiss» an?

Köllinger: Ja. Mittlerweile ist es bei mir ein deutliches Nein – doch es dauerte bis zu dieser Meinung. Zu Beginn dachte auch ich: Hey, durch die BVG-Reform wären mehr Leute in der Pensionskasse versichert, gerade Teilzeitarbeitende und somit Frauen. Erst als ich mich vertieft mit der Vorlage auseinandergesetzt habe, habe ich realisiert, dass ich mit vielem nicht einverstanden bin.

Das sagen die Befürworter

Bundesrat und Parlament sind für die Reform, damit die künftigen Renten der obligatorischen beruflichen Vorsorge «ausreichend und langfristig» finanziert seien. Durch die Reform würde die Altersvorsorge von Personen mit tiefen Einkommen verbessert – viele davon Frauen. Dank der Reform würden viele von ihnen eine höhere Rente aus der 2. Säule erhalten. Andere erhalten überhaupt erstmals Zugang zu einer Pensionskasse. Pensionskassen, die nur das Minimum bieten, bekämen eine «solidere finanzielle Basis».

FDP, GLP, Mitte und SVP haben die Ja-Parolen beschlossen, Grüne und SP sind dagegen.

zentralplus: Wie kam es zum Kurswechsel?

Köllinger: Die Befürworter der BVG-Reform sagen, durch die BVG-Reform sind mehr Leute versichert. Ich gehe einen Schritt zurück und frage mich: Ist das überhaupt gut, wenn man in der Pensionskasse versichert ist? Und was bedeutet dies?

zentralplus: Die 2. Säule hat zusammen mit der 1. Säule den Hauptzweck, Seniorinnen im Ruhestand ein angemessenes Einkommen zu sichern. Warum sollte es schlecht sein, in der Pensionskasse versichert zu sein?

«Wir brauchen keine Pensionskasse, die für uns Geld anlegt – das können wir selbst machen.»

Köllinger: Der einzige Vorteil ist die Tatsache, dass ein Arbeitgeber auch noch Beiträge einzahlt. Doch das Geld verliert laufend an Wert. Zum einen wegen der Inflation. Pro Jahr wird das Leben in der Schweiz durchschnittlich zwei Prozent teurer. Dadurch verliert das Geld in der Pensionskasse sowieso schon an Wert, weil es zu tief verzinst wird. Der Mindestzinssatz für das Obligatorium beträgt 1,25 Prozent. Die Inflation wie gesagt rund 2 Prozent. Das Geld verliert also jedes Jahr an Wert – und das über 40 Jahre hinweg. Nun sollen auch noch die Renten gekürzt werden. Das sind traurige Zukunftsaussichten. Ich stelle das ganze System infrage.

zentralplus: Wie meinen Sie das?

Köllinger: Wir brauchen keine Pensionskasse, die für uns Geld anlegt – das können wir selbst machen. Denn Pensionskassen machen nämlich genau das: Sie nehmen unser Geld und legen es an der Börse an. Wir bekommen von Gesetzes wegen nur einen kleinen Teil in Form eines Mindestzinses von 1,25 Prozent zurück, obwohl die Erträge an der Börse viel höher sind. In der Schweiz gibt es 1400 Pensionskassen. Diese müssen Löhne und Provisionen bezahlen, müssen für Büroräume, Vermögensverwaltungskosten und Marketing aufkommen. Dies zu unterhalten, ist extrem teuer. Steht eine Versicherung hinter der Pensionskasse, dürfen sie zehn Prozent unserer Erträge behalten. Die dürfen uns legal in die Taschen langen und sich bedienen. Und niemand checkt das, weil sich die Pensionskassen hinter einem komplizierten Gesetzeskonstrukt mit Fachwörtern wie Koordinationsabzug, Umwandlungssatz usw. verstecken.

Arbeitete fünf Jahre lang als Sozialarbeiterin und Fachperson für Altersfragen bei Pro Senectute: Stephanie Köllinger. (Bild: ida)

zentralplus: Welche Lösung würden Sie stattdessen begrüssen?

Köllinger: Ein alternatives System wäre ein 2- anstelle eines 3-Säulen-Systems, bei dem man die Pensionskasse streicht. Also ein System, dass aus AHV und einer Art Säule 3a besteht. Bei letzterer müsste es einen Sparzwang geben. Die Bevölkerung dürfte aber auch freiwillig mehr einbezahlen, und auch Arbeitgeber müssten sich beteiligen. Mir würde eine Lösung wie in Norwegen vorschweben: Norwegen gründete 2006 einen staatlichen Pensionsfonds, mit dem das Land weltweit anlegt. Dieser wirft Rekordgewinne ab. Der Bund könnte einen solchen staatlichen Pensionsfonds bereitstellen – einer, der tiefe Gebühren hat, transparent ist und die Rendite zu 100 Prozent an die Versicherten zurückgibt.

zentralplus: Die 2. Säule abschaffen – das wäre ein extrem radikaler Schritt.

Köllinger: Ja, ich bin selbst auch ein wenig erschrocken. Manchmal muss man radikale Ideen haben, die vielleicht ein wenig anecken. Aber solche Ideen regen auch eine Diskussion an. So viele Leute vertrauen dem Staat blind. Gerade junge Menschen denken: Das Geld reicht dann schon im Alter, der Staat schaut dann schon.

zentralplus: Sagten Sie nicht eben, Sie wünschen sich einen staatlichen Pensionsfonds?

Köllinger: Was ich mir wünsche, ist finanzielle Bildung an den Schulen. Aber weil wir das bis heute nicht haben und nicht jeder weiss, wie Investieren geht – obwohl das heute so einfach ist wie noch nie –, fände ich die Idee eines Pensionsfonds nicht schlecht. Das ist aus meiner Sicht immer noch besser als 1400 Pensionskassen, die kaum beaufsichtigt werden und hohe Kosten generieren. Es sollte im Interesse des Bundes liegen, Altersarmut effizient zu verhindern, denn Altersarmut generiert hohe Folgekosten in Form von Ergänzungsleistungen. Mit den aktuellen Aussichten von sinkenden Renten werden die Kosten für Ergänzungsleistungen in Zukunft explodieren, und da diese durch Steuern finanziert werden, dürften diese wiederum steigen.

«Bei meiner Arbeit bei Pro Senectute wurde ich täglich mit dem Thema Altersarmut konfrontiert.»

zentralplus: Sie arbeiteten als Sozialarbeiterin und Fachperson für Altersfragen bei Pro Senectute. Wie real ist die Sorge, in der reichen Schweiz zu wenig Geld im Alter zu haben?

Köllinger: Leider sehr real. Bei meiner Arbeit wurde ich täglich mit dem Thema Altersarmut konfrontiert. Gemäss Bundesamt für Statistik liegt die durchschnittliche Altersrente aus AHV und Pensionskasse für eine Frau bei 3030 Franken pro Monat. Bei Männern bei rund 4400 Franken. Wer kann sich im Alter schon allein mit 3000 Franken finanzieren? Durch die Klienten – viele Frauen – habe ich gesehen, was es bedeutet, im Alter arm zu sein. Viele Rentnerinnen sagten: «Hätte ich doch nur gewusst, dass ich fürs Alter vorsorgen muss.»

zentralplus: Was hat das in Ihnen ausgelöst?

Köllinger: Mitleid, aber auch viel Wut. Wut über unser System und dass so wenige Menschen Wissen über Finanzen besitzen. In der Schule lernen wir nichts über Geld, das Ausfüllen von Steuererklärungen, wo wir Prämienverbilligungen beantragen können oder wie wir Geld investieren. Aber es motivierte mich auch.

zentralplus: Wozu?

Köllinger: Mich um meine eigene Altersvorsorge zu kümmern und dieses Wissen zu teilen. Ich begann zu recherchieren und sprach in meinem Freundeskreis darüber. Bei vielen Jungen ist Altersvorsorge kein Thema. Ich hätte am liebsten alle wachgerüttelt: Kümmere dich um deine Vorsorge, sonst landet auch ihr in der Altersarmut! Es ist unglaublich wichtig, selbst vorzusorgen – denn wenn man pensioniert ist, hat man keine Hebel mehr. Man kann sich nicht einfach weiterbilden oder das Pensum erhöhen. Du hast so viel Geld, wie du vorbereitet hast. Das ist tragisch: Wer zu wenig hat, muss 20 bis 30 Jahre lang mit Geldsorgen leben. Das ist sehr frustrierend.

zentralplus: Was raten Sie?

Köllinger: Es gibt viele verschiedene Hebel. Das Wichtigste ist, Geld zu investieren. Das ist die Strategie, um im Alter genügend Geld zu haben. Eine gute Möglichkeit ist, das Geld breit diversifiziert in sogenannte ETFs mit tiefen Gebühren anzulegen. ETFs (Exchange Traded Funds) sind Fonds, die an der Börse gehandelt werden. Damit lässt sich einfach und günstig in ganze Märkte und nicht nur in einzelne Unternehmen investieren, das minimiert die Risiken. Die Rendite gehört dadurch zu 100 Prozent dir selbst, und du hast keine Pensionskasse, die einen Grossteil davon abschöpft. Die Rendite auf dem weltweiten Aktienmarkt lag in den vergangenen 100 Jahren bei circa 7 Prozent. Zur Erinnerung: Bei den Pensionskassen erhalten wir 1,25 Prozent – manchmal etwas mehr, aber an 7 Prozent kommen wir nicht ran. ETFs sind aus meiner Sicht ideal, um Geld effizient langfristig zu vermehren.

Verwendete Quellen
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