Wahlen

So uneins wie in Zug

Die siebenköpfige Zuger Regierung mit dem Landschreiber (rechts) und der stellvertretenden Landschreiberin (links). (Bild: Bruno Rubatscher Fotografie)

FDP und CVP fordern im Kanton Zug: Künftig sollen Regierung und Gemeinderäte im Majorzsystem gewählt werden. Aktuell gilt noch der Proporz. Wie im Tessin. Dessen Vertreter sind nach wie vor überzeugt von diesem Wahlverfahren. Aber auch im Süden der Schweiz herrscht keine Einigkeit. Wie in Zug. 

Bereits zum dritten Mal innerhalb von 16 Jahren wird im Kanton Zug über das Thema abgestimmt: Sollen die Regierungsräte und Gemeinderäte neu im Majorzverfahren gewählt werden? In den Jahren 1997 und 2001 haben die Zuger Stimmberechtigten diese Frage mit Nein beantwortet, am 9. Juni 2013 werden sie erneut die Gelegenheit erhalten, an der Urne darüber zu befinden.

Das Majorzverfahren, auch Mehrheitswahl oder Personenwahl genannt, sieht vor, dass jeweils der Kandidat das Amt gewinnt, der am meisten Stimmen erhält. Dies im Gegensatz zum Proporzverfahren, das in Zug derzeit noch für die Wahl der Exekutivmitglieder im Kanton und in den Gemeinden gilt: Dabei werden die zur Verfügung stehenden Sitze im Verhältnis zu allen abgegebenen Stimmen verteilt.

FDP und CVP werben im Kanton Zug ganz klar für den Majorz. Die beiden Parteien sind es auch, die mit einer Verfassungsinitiative die Diskussion erneut angestossen haben. Unterstützung erhalten die Bürgerlichen unter anderem von den Grünliberalen und der Zuger Regierung. SVP, SP und Alternative-die Grünen hingegen wollen beim alten System bleiben. Ein emotionaler Abstimmungskampf steht Zug also bevor, zwei Exponenten der beiden Lager diskutieren bereits heute auf zentral+.

Zwei Ausnahmen

Der Kanton Zug bildet mit seinem derzeit noch gültigen Wahlsystem eine Ausnahme. Denn 24 Kantone wählen ihre Exekutiven im Majorz. Nebst Zug kennt nur noch das Tessin das Proporzsystem für die Exekutivmitglieder im Kanton und in den Gemeinden. Deshalb lohnt sich ein Blick in den Süden. Was meinen Vertreter des Kantons Tessin zu ihrem Wahlverfahren?

Auffallend ist: Alle angefragten Politiker wissen sehr genau, wie es dazu gekommen ist, dass im Kanton die Regierung heute nach dem Proporzsystem gewählt wird. So war während des ganzen 19. Jahrhundert das Verhältnis zwischen den Freisinnigen und den katholischen Konservativen sehr angespannt. Bei jeder Wahl des Regierungsrates und Grossrats versuchten die beiden politischen Lager durch Manipulation der Wahlkreise die Macht zu erobern.

«Selbst bei einer knappen Mehrheit der Stimmen war es dem Gewinner möglich, eine überwiegende Mehrheit in der Regierung und im Parlament zu erlangen und damit die Gegenpartei zu unterdrücken. Dies dank der von den damaligen Wahlgesetzen erlaubten Verzerrung des Majorzsystems», erzählt Giovanni Merlini, langjähriger Tessiner Parlamentarier und Alt-Präsident der Tessiner FDP, die Geschichte nach. Gemäss dem Jungfreisinnigen Tessiner Alessandro Speziali schreckten dabei die beiden Lager auch nicht vor blutigen Auseinandersetzungen zurück. «Und was die eine Partei während ihrer Regierungszeit aufbaute, machte die andere rückgängig, wenn sie wiederum an der Macht war. Eine Kontinuität war nicht gegeben», ergänzt der Tessiner Regierungsrat und Alt-Nationalrat Norman Gobbi (Lega dei Ticinesi).

Schliesslich griff der damalige Bundespräsident Louis Ruchonnet ein und veranlasste den Übergang zum Proporzsystem. Seit 1892 ist dieses, mit zahlreichen gesetzlichen Anpassungen, das Wahlsystem des Kantons Tessin für den Staats- und Grossrat (Exekutive und Legislative). In Zug wurden die Proporzwahlen zwei Jahre später eingeführt – nicht nur für den Kantonsrat, sondern auch für die Exekutiven von Kanton und Gemeinden.

«Das Tessinermodell hat sehr schnell zur Versöhnung der politischen Lager beigetragen», blickt Giovanni Merlini zurück. Alessandro Speziali stellt fest, dass mit dem Proporzsystem «das Problem der grossen historischen Rivalität zwischen den beiden Parteien gelöst worden ist». Norman Gobbi ist schlicht stolz «auf unser liberaldemokratisches System, das es ermöglicht, eine Regierung der Einigkeit zu bilden», wie er sagt.

Verantwortung teilen

Für den Lega-Regierungsrat überwiegen die Vorteile des Proporzes ganz klar. «Alle Parteien werden in die Verantwortung genommen», sagt Gobbi. Das heute bei den Wahlen angewandte System «ist das beste angesichts des Temperaments von uns Tessinern», ergänzt er und lacht. Gobbi äussert zudem die Befürchtung, dass mit dem Majorz die Bergregionen des Kantons seltener in der Regierung vertreten wären als heute. «Die städtischen Regionen würden zu viel Macht erhalten.» Zudem reiche ein Blick zum grossen Nachbarn Italien, um zu erkennen, dass der Majorz keine Lösung sei.

«Dank des Proporzes entsteht keine Opposition, deren einziges Ziel es ist, den politischen Gegner zu schlagen», sagt Alessandro Speziali. Für ihn ermöglicht das Wahlsystem zudem «eine Politik der kleinen Schritte, es führt zu weniger Konflikten zwischen den Regierungsparteien und verhindert eine Personalisierung der Politik». Alt-Nationalrat Fabio Pedrina (SP) streicht hervor, dass mit dem Proporz «eine Partei, die keine Mehrheit im Volk hat, auch nicht über eine Mehrheit in der Regierung verfügen kann».

«Die Vorteile liegen darin, dass die verschiedenen politischen Kräfte und insbesondere die Minderheiten besser vertreten und in die Regierung des Kantons eingebunden werden können», sagt Giovanni Merlini. Diese Einbindung führe dazu, dass die involvierten Parteien Verantwortung übernehmen, wie die Geschichte des Kantons Tessin zeige, ergänzt der FDP-Politiker – und relativiert diese Aussage gleich wieder. «Ob in der heutigen Zeit diese positive Wirkung noch anhält, ist manchmal zu bezweifeln.» So habe die Einbindung der Lega dei Ticinesi in die Regierung «die Partei und deren Führer kaum verantwortungsbereiter gemacht», sagt Merlini. «Mit der Konsequenz, dass die Vertreter der Lega in der Regierung vom Diktat der Partei regelmässig Abstand nehmen.»

Der Kompromiss – Vorteil oder Nachteil?

«Der Proporz bringt die Exekutiven dazu, um mehrheitsfähige Kompromisse zu ringen», erklärt CVP-Nationalrat Fabio Regazzi kurz und knapp. Damit führt Regazzi einen Vorteil des Proporzes auf, den alle anderen Politiker ebenfalls nennen. Regazzi ist aber nicht davon überzeugt, dass diese Kompromissfindung immer zur besten Lösung führt. «Mit dem Proporz wird eine Regierung zur Konkordanz verdammt», sagt er.

Fabio Pedrina weist darauf hin, «dass die Kompromisse in einer Regierung ab und zu zu Wischi-Waschi-Lösungen führen». Und Merlini ergänzt: «Nachteilig am Proporz ist vor allem die langwierige und oft komplexe Suche nach dem politischen Konsens.» Eine Aussage, die Alessandro Speziali unterstützt. «Gewisse Dossiers werden deswegen gar zur Seite gelegt, weil ein Kompromiss kaum gefunden werden kann.»

Fabio Regazzi verheimlicht nicht, dass ihm das Majorzsystem besser gefällt. «Es bietet die Möglichkeit, eine klare Politik zu betreiben», sagt er. Ein Politiker erhalte damit ein schärferes Profil und könne von den Stimmberechtigten besser eingeschätzt werden.

Immer wieder ein Thema

Dem CVP-Nationalrat ist jedoch bewusst, dass ein Systemwechsel derzeit in seinem Kanton keinerlei Chancen hat. So wird das Thema zwar immer wieder aufgegriffen – wie im Kanton Zug. Im Tessin ist es vor allem die SVP, die auf eine Veränderung drängt, doch bislang ohne Erfolg.

«Ein Konsens für einen Wechsel besteht weder unter den Parteien noch im Volk», begründet Giovanni Merlini. Für ihn persönlich wäre ein Systemwechsel jedoch eine Option. Ein Vergleich mit anderen Kantonen, die das Majorzsystem kennen, zeige, dass die Unterschiede und die vermeintlichen Vorteile für den politischen Entscheidungsfindungsprozess und die Regierungseffizienz nicht überschätzt werden sollten, sagt er. «Die Volksrechte der direkten Demokratie – damit meine ich die Initiative und das Referendum – zwingen die politischen Behörden auch im Majorzsystem dazu, ausgewogene und konsensfähige Lösungen zu finden.»

Dessen ist sich Fabio Pedrina bewusst. Zwar würde er nicht für einen Wechsel des Wahlsystems einstehen, doch er will nicht dramatisieren. «Wie in vielen anderen Kantonen könnte man auch nach einem Systemwechsel zu einer ähnlichen Sitzaufteilung gelangen wie heute. Weil sich das Schweizer Volk auch mit dem Majorz oft de facto im Sinne des Proporzes verhält und entsprechend wählt.»

Trotzdem, Regierungsrat Norman Gobbi zieht es vor, beim bisherigen System zu bleiben. «Es fördert die Stabilität des Kantons.»

Signalwirkung?

Das Fazit aus der kleinen Umfrage bei den genannten Politikern lautet also: Wie im Kanton Zug ist man sich auch im Tessin nicht einig, welches System das geeignetste ist für die Wahl der Exekutivmitglieder. Somit ist gut möglich, dass dort die Diskussion darüber erneut entfacht wird, sollte sich der Zuger Souverän für einen Wechsel entscheiden. Bestätigen die Stimmberechtigten jedoch den Proporz, so werden der Kanton Zug und das Tessin in der Schweiz wohl für eine längere Zeit die Ausnahmefälle in Sachen Wahl der Exekutivmitglieder bleiben.

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