«Bundesrat widerspricht dem Willen des Gesetzgebers»

Gerhard Pfister setzt sich für die Gebärdensprache ein

Gerhard Pfister engagiert sich für die Rechte von Gehörlosen. Archivbild. (Bild: wia)

Beide Kammern in Bern wollen die Gebärdensprache mit einem Bundesgesetz rechtlich anerkennen. Doch der Bundesrat sieht das anders. Das ruft den Zuger Nationalrat Gerhard Pfister auf den Plan.

Rund 10'000 gehörlose Menschen leben in der Schweiz. Sie sind durch ihre Beeinträchtigung stark eingeschränkt. Der Besuch einer Schule oder einer Universität, das Bestellen im Restaurant oder ein Telefonat: All das ist kaum oder gar nicht möglich. Doch der Bundesrat gelobt Besserung.

Im März 2022 wurde eine Motion eingereicht, die Gebärdensprachen in der Schweiz rechtlich anzuerkennen. Und konkrete Schritte zur Gleichberechtigung von gehörlosen und hörbehinderten Menschen einzuleiten. Dazu soll der Bundesrat ein eigenes Bundesgesetz schaffen.

Dieser schreibt in seiner Stellungnahme im Mai 2022, er sei bereit, «die gesetzliche Anerkennung der Gebärdensprachen an die Hand zu nehmen». Aber nicht mit einem eigenen Gesetz.

Die einzige Gehörlose der Schweiz mit Doktortitel

Doch kurz ein Blick zurück: Dass die Gebärdensprachen überhaupt anerkannt werden sollen, ist nicht unmassgeblich einer Frau zu verdanken: Tatjana Binggeli. Die Geschäftsführerin des Schweizerischen Gehörlosenbunds (SGB-FSS) ist die erste gehörlose Nationalratskandidatin (SP). Wenn sie spricht, sieht das wie folgt aus.

Wer hat Tatjana Binggeli verstanden? Wohl nicht viele. Für alle, die der deutschschweizerischen Gebärdensprache nicht Here sind, folgt hier die Übersetzung.

«In der Schweiz existieren vier verschiedene Landessprachen: Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. Zusätzlich gehören die drei Gebärdensprachen der Schweiz dazu, sodass es sieben Sprachen sind. Die drei Gebärdensprachen sind die deutschschweizerische, die französische und die italienische Gebärdensprache mit den Abkürzungen DSGS, LSF und LIS. Alle Sprachen sind gleichwertig.»

Tatjana Binggeli selbst hat als eine der wenigen Menschen mit Beeinträchtigung eine Universität besucht. Und nicht nur das. Sie ist die einzige Gehörlose der Schweiz mit einem Doktortitel der wissenschaftlichen Medizin. Wenn SRF sie interviewt, hat sie eine Übersetzerin dabei. Und weiss zu überzeugen.

Tatjana Binggeli in einem Beitrag von SRF. (Bild: SRF)

Wohl auch im Jahr 2022, als ihr die Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Ständerats lauschte. Die Kommission schrieb, nach Binggelis Rede sei man «zum Schluss gekommen, dass die Gebärdensprache mittels eines neuen Bundesgesetzes anerkannt werden sollte.» Doch wie es nun scheint, soll das nicht geschehen.

Gerhard Pfister fragt beim Bundesrat nach

Denn der Bundesrat schlägt vor, das Thema gemeinsam mit der Teilrevision des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) abzuwickeln. «Eine darüber hinausgehende Förderung würde erhebliche personelle und finanzielle Ressourcen erfordern, die nicht vorhanden sind und zur Verfügung gestellt werden müssten», meint der Bundesrat. Bedeutet: Kein eigenes Gesetz, sondern ein Absatz in einer ohnehin für Ende 2023 geplanten Änderung des BehiG.

Der Zuger Nationalrat Gerhard Pfister (Mitte) ist damit nicht einverstanden. Er setzt sich als Co-Präsident einer parlamentarischen Gruppe für die Rechte von Gehörlosen ein und hat daher kritisch beim Bundesrat nachgehakt.

Gerhard Pfister setzt sich für die Anliegen der gehörlosen Gemeinschaft ein. (Bild: zvg)

Ob es dem Bundesrat klar sei, dass er mit seinem Vorgehen «dem Willen des Gesetzgebers nicht entspricht», fragt Pfister im Rahmen der Fragestunde. Seine Frage wird, wie zu Beginn der zweiten und dritten Sessionswoche üblich, diesen Montag im Rat behandelt. Auf Nachfrage erklärt er mehr.

Darum wollen Gehörlose ein eigenes Gesetz für ihre Sprachen

«Es geht um die Frage, ob die Gebärdensprache ein eigenes Gesetz und damit die Anerkennung als eigene Sprache erhält, oder eben im Behindertengleichstellungsgesetz, wie es möglicherweise von der Verwaltung jetzt angedacht wird», schreibt er. Bevor er Weiteres sagt, wolle er aber auf die Antwort des Bundesrats warten. Der Schweizerische Gehörlosenbund ist auskunftsfreudiger.

«Die Gehörlosengemeinschaft in der Schweiz ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit, deren kulturelle Grundlage die Gebärdensprachen bilden.»

Sandrine Burger, Mediensprecherin Schweizerischer Gehörlosenbund

Der Schweizerische Gehörlosenbund sei «sehr enttäuscht» gewesen, als er im Frühjahr 2023 erfuhr, dass es kein eigenes Gesetz für ihr Anliegen geben soll. Die Entscheidung laufe in den Augen des Verbands dem Willen des Parlaments zuwider. Denn beide Kammern hatten die Motion, die ein eigenes Gesetz zur Anerkennung der Gebärdensprache fordert, angenommen. Daher begrüsst der Verband das Engagement von Gerhard Pfister.

Gehörlose sind eine sprachliche und kulturelle Minderheit

«Die Gehörlosengemeinschaft in der Schweiz ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit, deren kulturelle Grundlage die Gebärdensprachen bilden. Aus diesem Grund muss ein spezifisches Gesetz geschaffen werden und nicht eine Anpassung des BehiG», erklärt die Mediensprecherin des Verbands, Sandrine Burger.

In den Medien findet die kulturelle und sprachliche Minderheit der Gehörlosen nur selten statt. Es gibt wenige Ausnahmen. So etwa ein legendärer Auftritt des Comedy-Duos «Ursus & Nadeschkin» gemeinsam mit zwei Gebärdendolmetscherinnen, die das Übersetzen komödiantisch auf die Schippe nehmen.

Noch ist Gebärdensprache in der Schweiz nicht ausdrücklich rechtlich anerkannt. Das bestätigt auch Andreas Rieder, Leiter des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB). Bund und Kantone würden aber bereits heute die Sprache mit zahlreichen Massnahmen erleichtern und fördern.

«Die ausdrückliche Anerkennung der Gebärdensprache hat stark symbolischen Charakter.»

Andreas Rieder, Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen

Beispiele: Die SRG sendet ein Grundangebot an Sendungen auch in Gebärdensprache und untertitelt immer mehr Sendungen. Und die IV übernimmt die Kosten für Gebärdensprachdolmetschen während Aus- und Weiterbildungen, in einem beschränkten Rahmen auch bei der Arbeit.

Mit der ausdrücklichen rechtlichen Anerkennung werde also in erster Linie die Sprache und Kultur der Gehörlosen sowie deren Bedeutung für die Vielfalt der Schweiz gewürdigt. «Die ausdrückliche Anerkennung hat stark symbolischen Charakter», sagt Andreas Rieder.

Verwendete Quellen
  • Schriftlicher Austausch mit Sandrine Burger, Mediensprecherin des Schweizerischen Gehörlosenbunds SGB-FSS
  • Schriftlicher Austausch mit Andreas Rieder, Leiter Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen EBGB
  • Schriftlicher Austausch mit Gerhard Pfister, Zuger Nationalrat (Mitte)
  • Website des Schweizerischen Gehörlosenbunds SGB-FSS
  • Medienmitteilung des Bundes zur Anerkennung der Gebärdensprache
  • Frage von Gerhard Pfister im Rahmen der parlamentarischen Fragestunde
  • Motion zur Anerkennung der Gebärdensprache und Stellungnahme des Bundesrates
  • SRF-Beitrag
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