Problemzonen im Lebensraum Zentralschweiz

Religion als Sinn, Staat als Ordnung und Kultur als Freiheit

Historisch und kulturell geprägt vom Kontakt mit dem Süden: die Stadt Luzern. (Bild: Eva Bocek)

In einer Kolumnenserie skizziert Loris Fabrizio Mainardi Problemzonen von Staat, Wirtschaft und Kultur der Zentralschweiz und fragt nach der Zukunftsträchtigkeit des Hergebrachten.

«Herkunft ist Zukunft», philosophierte im letzten Jahrhundert Martin Heidegger. Aus dem zeitlosen Orakel stellen sich den heutigen Menschen Fragen zu ihren örtlichen und zeitlichen Lebensräumen. Für mich, Bürger von Luzern und Oberägeri ZG und Nachkomme einer italienisch-schweizerischen Familie, deren Stammbäume bis ins mittelalterliche Unterwalden von Bruder Klaus beziehungsweise in den süddeutschen Uradel reichen, ist die Zentralschweiz Schnittpunkt sich treffender Herkunftslinien.

Fokussiert in meiner Geburtsstadt Luzern, der ersten deutschen Stadt nördlich der Alpen, geprägt vom Kontakt mit dem Süden. Im Mittelalter erster Umschlagplatz des Gotthardverkehrs, der Menschen und Güter von Mailand nach Basel und in die grossen Städte entlang des Rheins führte, spiegelt sich ihre Italianità ebenso in ihren Renaissancepalästen und Barockkirchen wie in der Ausgelassenheit ihrer Fasnacht.

Vergangene Ambivalenzen

Schnittpunkte mutieren indes bisweilen zu eigentlichen Schneidezonen. So zogen die Luzerner gen Süden, um ihre Handelsroute militärisch abzusichern – mit wechselndem Erfolg: 1422 kehrten von sieben in den Krieg ausgezogenen Nauen nur zwei wieder zurück. An die damals bei Arbedo Gefallenen gemahnt das Denkmal in der Peterskapelle.

Und als anno 1386 in der Schlacht von Sempach «Eidgenossen» gegen «Österreicher» kämpften, fielen mit Herzog Leopold III. von Habsburg etliche meiner Urahnen – auf Seiten der bäuerlichen «Sieger» wie der ritterlichen «Besiegten». Deren Wappen und erbeutete Banner zieren bis heute die Sempacher Schlachtkapelle als auch die Luzerner Franziskanerkirche.

Die Absurdität eines mittelalterlichen Krieges greift so bis in heutige Stammbaumzweige. Solche Ambivalenzen von «Herkunft» ignorieren freilich jene «heimatliebenden» Horden, die das Sempacher Schlachtfeld alljährlich als Bühne ihrer rechtsradikalen Propaganda missbrauchen (zentralplus berichtete).

Burckhardts Gleichgewicht ist auseinandergefallen

In meinen nächsten Kolumnen werde ich den Lebensraum Zentralschweiz auf akute Problemzonen hinterfragen, inspiriert vom Kopf auf der 2021 aus dem Verkehr gezogenen Tausendernote, dem Basler Historiker Jacob Burckhardt. Dessen geschichtsprägende drei «Potenzen» stehen im Widerstreit, dessen gleichgewichtiges Aushalten aber gerade die Bedingung für den Bestand von Zivilisation ist: Religion als Sinn, Staat als Ordnung und Kultur als Freiheit.

Vorab gefragt: Ist Burckhardts Gleichgewicht in der heutigen Schweiz und den Kantonen ihrer geografischen Mitte auseinandergefallen – und sein Kopf deswegen symbolträchtig von der Tausendernote verschwunden? Kippt ein Gleichgewicht, stellt sich die Frage der Fallrichtung. Der Gewichtsverlust der Religion wäre hier die erste und offensichtlichste Diagnose.

Eine praktische Antwort aus dem alten Venedig

Bei den beiden anderen Potenzen fällt die Ursachensuche schwieriger aus und wird nicht ohne politische Fingerabdrücke vonstattengehen: Ist der Staat auf der Weltbühne globalisierter Märkte zu einem untergewichtigen Randständigen verkommen oder aber durch Regulierungswut und aufgeblähte Verwaltungen zu einem adipösen Monster entartet?

Über den Krankheitszustand der Kultur klagen reaktionäre Populisten, die deren «Zerfall» predigen und Kopftücher wie Gendersternchen zu verbannen trachten, wie «freie» Kunstschaffende linker Prägung, die sich über gekürzte Staatsbeiträge beschweren. Bemerkenswert ist, dass Burckhardt auch die Wirtschaft zur Potenz der Kultur zählte. Krankt diese nunmehr an einer von ihr einverleibten «Renditekultur», die geschichtsvergessen geworden ist, «nutzlose» Mint-Fächer aus den Lehrplänen gestrichen und die nationale Volks- durch eine globale Betriebswirtschaft ersetzt hat?

In der «Serenissima», der alten Republik Venedig, gab es eine praktische Antwort auf damalige Fragen gesellschaftlicher Prioritäten: Hatte eine «regimentsfähige» Familie drei Söhne, entsandte man den Klügsten in den Staatsdienst, den Schlausten in das Handelsgeschäft – und den Dümmsten ins Kirchenamt. Wie analoge Gewichtungen in der Zentralschweiz von heute ausfallen und welche Schlüsse für deren Zukunft zu ziehen wären, dazu bald mehr in dieser Kolumne.

Unsere Kolumnistinnen und Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

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