Luzerner Adipositas-Experte im Interview

«Man kann von einer Pandemie sprechen»

Lukas Burget, Leitender Arzt Endokrinologie und Diabetologie, ist neu Co-Leiter des Zentralschweizer Adipositaszentrums. (Bild: mre)

Abnehmspritzen-Experte Lukas Burget erzählt, wieso die Anzahl Übergewichtiger so stark zunimmt, was Betroffene tun können und was hinter den Spritzen steckt.

Immer mehr Menschen leiden an schwerem Übergewicht. Davon berichtete kürzlich das Luzerner Kantonsspital (zentralplus berichtete). Ab einem gewissen Grad ist Abnehmen nur noch mit professioneller Hilfe möglich. Diese erhalten Betroffene im Zentralschweizer Adipositaszentrum des Luzerner Kantonsspitals. zentralplus traf sich zum Gespräch mit dem neuen Co-Leiter des Zentrums, dem Abnehmspritzen-Experte Lukas Burget.

zentralplus: Warum sind immer mehr Menschen übergewichtig?

Lukas Burget: Eine der vielen Ursachen dürfte darin liegen, dass wir heute viel mehr Nahrung zur Verfügung haben als noch vor 70 Jahren. Das erste Mal in der Menschheitsgeschichte haben wir in Europa und in vielen Teilen der Welt seit mehreren Jahrzehnten keine Hungersnot mehr erlebt. Unser Körper ist aber darauf ausgelegt, Hungersnöte zu überleben. Die Frage nach der Ursache abschliessend zu beantworten ist aber sehr schwierig. Auch die Spitzenwissenschaft kann bisher nicht einheitlich erklären, wieso Adipositas so stark zunimmt.

zentralplus: Wir sind also von zu viel Nahrung umgeben?

Burget: Schauen Sie sich mal Fotos von Supermarktregalen aus den 50er-Jahren an und vergleichen Sie diese mit heute. Wir haben ein ganz anderes Angebot – und das für den gleichen Franken. Die Kalorie kostet heute deutlich weniger als in den 50er-Jahren. Sogar später, als ich ein Kind war, konnte man eine einzelne Milchschnitte kaufen. Heute gibt es nur noch Multipacks. Hinzu kommen auch weitere Faktoren wie beispielsweise fehlende Bewegung und Schlafmangel.

Über das Adipositaszentrum Zentralschweiz

Das Adipositaszentrum Zentralschweiz ist in den letzten Jahren stark gewachsen und gehört zu den grössten Adipositaszentren der Schweiz. Patienten werden an den Standorten Luzern, Sursee und Stans behandelt.

Das Luzerner Kantonsspital (Luks) hat das Zentrum vor Kurzem neu organisiert (zentralplus berichtete). Lange seien chirurgische Eingriffe die einzige Möglichkeit gewesen, einen nachhaltigen Gewichtsverlust zu erreichen. In den letzten Jahren hätten Medikamente die Behandlungsmöglichkeiten jedoch erweitert.

Mit der Neuorganisation will das Luks die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Fachbereichen intensivieren. Neu leitet daher Lukas Burget, leitender Arzt Endokrinologie und Diabetologie, gemeinsam mit dem bisherigen Leiter Martin Sykora, Chefarzt Chirurgie, das Zentrum.

zentralplus: Wie sieht das Problem in der Zentralschweiz aus?

Burget: Man kann von einer Pandemie sprechen. Adipositas ist ein weltweites Phänomen und betrifft alle Kontinente. Sogar in der Subsahara steigt die Anzahl adipöser Menschen signifikant an. In der Zentralschweiz ist schweres Übergewicht wie in der übrigen Schweiz und in ganz Europa ein zunehmendes Problem.

zentralplus: In der Zentralschweiz ist das Adipositaszentrum für die Behandlung von schwer übergewichtigen Personen zuständig. Wann bekommt man bei Ihnen eine Behandlung?

Burget: Grundsätzlich bekommen alle Menschen mit Übergewicht einen Termin im Zentrum. Dann gibt es klare Kriterien, wann eine Behandlung sinnvoll ist und gemacht wird. Der BMI ist zu einem grossen Teil massgebend. Auch Folgeerkrankungen wie Diabetes oder hoher Blutdruck spielen eine Rolle.

zentralplus: Ab wann ist der BMI denn zu hoch?

Burget: Übers Bein gebrochen bedeutet ein BMI ab 25 Übergewicht und einer ab 30 Adipositas, also schweres Übergewicht. Mit Folgeerkrankungen behandeln wir Patienten medikamentös ab einem Wert von 27. Wenn ein BMI von 35 und drüber vorliegt, therapieren wir, auch wenn noch keine offensichtlichen Folgeerkrankungen vorliegen.

zentralplus: Kann man also nicht dick und gesund sein?

Burget: Wir bezeichnen Adipositas als Krankheit. Deswegen ist schweres Übergewicht eigentlich schon eine Krankheit. Es gibt aber durchaus adipöse Personen, die an keiner Folgeerkrankung leiden. Das sind nicht viele, aber es gibt sie.

Wir kriegen immer wieder Anfragen von Leuten, die gerne fünf Kilo leichter sein wollen, aber gar kein Übergewicht haben.

zentralplus: Gibt es auch Leute, die zu Ihnen kommen, weil sie einfach etwas dünner seien wollen?

Burget: Ganz klares Ja. Wir kriegen immer wieder Anfragen per E-Mail oder Selbstzuweisungen von Leuten, die gerne fünf Kilo leichter sein wollen, aber gar kein Übergewicht haben.

Wir machen keine solchen Lifestyle-Behandlung.

zentralplus: Kriegen diese Personen eine Behandlung bei Ihnen?

Burget: Ganz klares Nein. Wir machen keine solchen Lifestyle-Behandlungen. Das ist auch nicht zugelassen und verschärft die Medikamentenknappheit für die Patienten, die diese Therapie benötigen. Wir haben die Kriterien mit BMI und Folgeerkrankungen und an diese halten wir uns strikt.

zentralplus: Warum sind manche Menschen dick und andere nicht? Sind dicke Menschen faul?

Burget: Oh, das Thema Stigmatisierung, das ist ein ganz ganz grosses Thema, welches schon immer wichtig war und nun zum Glück an Präsenz gewinnt. Bei anderen Krankheiten sagen wir auch nicht, dass die Person selbst schuld ist und die Krankheit ihre Strafe sei. Wir nehmen diese Patienten ernst und behandeln sie. Das sollte bei Adipositas genauso sein.

zentralplus: Der Lebensstil – also Ernährung und Bewegung – ist aber trotzdem wichtig, oder?

Burget: Genau. Gesunde Ernährung und ausreichend Sport sind eine wichtige Grundlage in der Adipositastherapie – so auch bei uns. Die Patienten müssen regelmässig zur Ernährungsberatung und werden zum Sport angeleitet. Ich empfehle allen meinen Patienten, einen Schrittzähler zu montieren und schaue mir diesen dann auch an.

zentralplus: Sie kontrollieren also, ob sich die Patienten bewegen?

Burget: Schlussendlich basiert vieles auf Vertrauen. Wir können und wollen unseren Patienten keinen Chip einpflanzen. Viele, die zu uns kommen, versuchen ausserdem bereits schon sehr lange, den Lebensstil umzustellen. Es gibt nur ganz wenige, denen nicht bewusst ist, wie wichtig Bewegung und gesunde Ernährung für ein gesundes Gewicht ist.

Unser Körper ist genetisch so programmiert, das Gewicht zu halten. Die Hungersnot ist in unserer DNA praktisch abgespeichert.

zentralplus: Wieso klappt es bei manchen einfach nicht mit dem Abnehmen?

Burget: Sie müssen wissen, viele Menschen, die zu uns kommen, stehen mitten im Leben, sie haben einen Job und vielleicht eine Familie. Die wenigsten schaffen es von einem Tag auf den anderen, stundenlange Sportprogramme zu machen. Diese grundlegende Verhaltensänderung ist sehr, sehr schwierig. Zusätzlich ist unserer Körper genetisch so programmiert, das Gewicht zu halten. Die Hungersnot ist in unserer DNA praktisch abgespeichert.

zentralplus: Wie viel können übergewichtige Person mit einer Lebensstiländerung also überhaupt erreichen?

Burget: Das ist unterschiedlich. Es gibt Einzelfälle, in denen Menschen plötzlich zu Sportfreaks werden. Längerfristig schaffen es aber die wenigsten, damit mehr als zehn Prozent des Gewichts abzunehmen. Das zeigen auch grosse Studien.

zentralplus: Dann müssen medizinische Massnahmen her. Wie sehen diese aus?

Burget: Wir unterschieden zwischen Operationen und Medikamenten. Operationen sind momentan immer noch effektiver. Gerade bei Menschen mit einem sehr hohen BMI, einem BMI ab 40, ist es schwierig, mit Medikamenten in den Bereich zu kommen, wo wir hinwollen. Die allermeisten Patientinnen und Patienten behandeln wir trotzdem zuerst medikamentös. Viele haben Respekt vor einem chirurgischen Eingriff. Wenn es mit den Medikamenten nicht klappt, bleibt immer noch Plan B, also eine Operation.

zentralplus: Sie reden von Medikamenten. Damit ist die Abnehmspritze gemeint, oder? Was ist das eigentlich genau?

Burget: Dabei handelt sich um einen Pen. Der Patient zieht diesen auf und spritzt sich die Substanz einmal pro Woche in den Bauch oder den Oberschenkel. In der Spritze befinden sich synthetisch hergestellte Hormone.

zentralplus: Was bewirken diese Hormone?

Burget: Diese Hormone geben unserem Appetitzentrum im Gehirn permanent Rückmeldung, ob gegessen werden soll oder nicht. Sie sagen also dem Gehirn, wann der Körper satt ist und nicht mehr zu essen braucht – einfach gesagt. Gleichzeitig bewirken diese Hormone, dass sich der Magen langsamer entleert. Patienten fühlen sich also länger voll.

zentralplus: Welche Nebenwirkungen gibt es?

Burget: Die häufigsten Nebenwirkungen sind Übelkeit, manchmal Erbrechen und Beschwerden im Verdauungstrakt. Indem Patienten mit einer kleinen Dosis anfangen und diese langsam steigern, lassen sich Nebenwirkungen aber abschwächen. Einzelne Patienten müssen die Therapie leider abbrechen, weil die Nebenwirkungen zu stark sind und die Therapie nicht vertragen wird.

zentralplus: Funktioniert die Spritze denn bei jedem?

Burget: Es gibt leider auch Patienten, bei denen die Therapie nicht funktioniert. Das sind doch rund 20 bis 25 Prozent. Wieso das Medikament bei gewissen Personen nicht anschlägt, wissen wir leider noch nicht genau.

Wenn man die Spritzen absetzt, kommt es in der Regel zum Gewichtsanstieg.

zentralplus: Wenn die Therapie funktioniert und der Patient abgenommen hat: Kann er das Medikament dann wieder absetzen?

Burget: Wenn man die Spritzen absetzt, kommt es in der Regel zum Gewichtsanstieg. Es gibt einzelne Patienten, die in der Therapiezeit ihr Leben komplett umgestellt haben. Durch den Gewichtsverlust haben viele auch wieder Freude am Sport gefunden. Aber das ohne medikamentöse Unterstützung aufrechtzuerhalten ist schwierig. Adipositas ist eine chronische Krankheit. Wenn man die Therapie beendet, flammt die Erkrankung wieder auf.

zentralplus: Was können wir tun, damit Adipositas gar nicht erst ausbricht?

Burget: Bereits in der Kindheit anzusetzen ist sehr, sehr wichtig. Bei Kindern können wir Verhaltensmuster, Gewohnheiten und wahrscheinlich auch die Genetik beeinflussen. Wenn sich ein Kind beispielsweise viel bewegt und gesunde Nahrungsmittel isst, merkt sich das Gehirn das für das gesamte Leben. Auch wenn diese Person dann mal eine Sportpause macht, tut sie sich später leichter, wieder in Bewegung zu kommen. Doch das ist einfacher gesagt als getan.

Wenn ein Kind die Milchschnitte zehnmal am Tag präsentiert bekommt, will es die Milchschnitte auch.

zentralplus: Wie meinen Sie das?

Burget: Wir sind täglich mit zig Werbungen für Essen konfrontiert – für Essen, das wir gar nicht brauchen. Die Nahrungsmittelindustrie stimuliert uns permanent, hochprozessierte Nahrung zu konsumieren, die für unseren Organismus wahrscheinlich gar nicht vorgesehen ist. Wenn ein Kind die Milchschnitte zehnmal am Tag präsentiert bekommt, will es die Milchschnitte auch. Ohne eine gewisse Beschränkung, vergleichbar wie bei Zigaretten und Alkohol, wird es viele Generationen dauern, bis sich unsere Erbanlagen dieser Situation angepasst haben – sofern das überhaupt möglich ist.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Lukas Burget, Co-Leiter des Adipositaszentrums Zentralschweiz
  • Webseite des Adipositaszentrums Zentralschweiz
  • Mitteilung des Luzerner Kantonsspitals zur Neuorganisation des Zentrums
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