Neue App aus Luzern soll helfen

Erst die Geburt, dann die Depression – eine Mutter erzählt

Bei vielen Eltern herrscht nach der Geburt nicht nur Freude. (Bild: Symbolbild: Unsplash/Aditya Romansa)

Jede achte Mutter und jeder zehnte Vater erleidet eine Depression nach der Geburt des Kindes. Zwei junge Luzernerinnen wollen Betroffenen nun mit einer App helfen.

«Ich lag morgens im Bett und konnte kaum noch aufstehen. Ich hatte grosse Angst – Angst vor der Verantwortung, die ich für meine zwei Kinder tragen sollte. Während dieser Zeit war ich durchgehend überfordert, erschöpft und gereizt. Noch so kleine Auslöser haben mich zum Weinen gebracht.»

So erging es Tina Gut aus Luzern nach der Geburt ihres zweiten Kindes, wie sie zentralplus erzählt. Was die heute 38-Jährige erlebt hat, nennt sich Postpartale Depression – also eine Depression, die nach der Geburt eines Kindes bei den Eltern auftreten kann.

Die ersten Monate nach der Geburt im März 2020 seien eigentlich gut verlaufen. «Ich war positiv überrascht, wie gut es mir trotz der Anstrengung, zwei kleine Kinder zu betreuen, und den erschwerten Umständen aufgrund des Corona-Lockdowns ging», erzählt Tina Gut. Mit der zunehmenden Erschöpfung und Überforderung schwand ihr Antrieb allerdings. Am liebsten wollte sie nur noch schlafen.

Tina Gut mit ihrer Tochter. (Bild: zvg)

Wenn es ihr nicht gut ging, erhielt die junge Mutter Unterstützung von ihrem Mann. Während er im Home-Office arbeitete, betreute er zwischendurch die Kinder. «Doch ich wusste, dass ich nachher wieder die Verantwortung für die Kinder tragen muss. Nur schon der Gedanke daran belastete mich so, dass ich mich nicht erholen konnte», erinnert sie sich sie.

«Ich versage im Mami-sein»

Während es Tina Gut nicht gut ging, plagte sie zusätzlich das schlechte Gewissen. Sie hatte stark mit den Ansprüchen an sich selber zu kämpfen. «Ich versage im Mami-sein», dachte sie immer wieder.

Sie erzählt, dass sie schnell gereizt war und wütend wurde, wenn sie die Kinder betreute. Sie verspürte dadurch teilweise auch eine Ablehnung gegen ihre Kinder. «Ich habe meine Kinder immer geliebt. Das Gefühl wurde aber von der andauernden Erschöpfung überschattet», sagt sie. In solchen Situationen habe sie versucht, ihren Kindern in einfacher Sprache zu erklären, wieso sie wütend ist oder weint. «Mir ist es wichtig, dass die Kinder verstehen, dass es nichts mit ihnen zu tun hat.»

Was ist eine Postpartale Depression?

Die Symptome einer Postpartalen Depression ähneln jener einer «klassischen» Depression. Sprich: depressive Verstimmung an den meisten Tagen, Interessensverlust und verminderte Freude an der Mehrheit der Aktivitäten. Die Erkrankung liegt laut der Hirslanden-Gruppe dann vor, wenn die Symptome einen zeitlichen Zusammenhang zur Geburt aufweisen und mindestens zwei Wochen andauern.

Etwa 10 bis 15 Prozent aller Frauen und etwa 10 Prozent aller Männer entwickeln eine postpartale Depression, schreibt die Hirslanden-Gruppe auf ihrer Website. Einige Studien sprechen sogar von 30 Prozent der Mütter.

Zu unterscheiden davon ist das Stimmungstief, das eine Mehrheit der Frauen wenige Tage nach der Geburt erleiden. Dieses verschwinde innerhalb von Stunden oder Tagen wieder.

Tina Gut verstand aber selber nicht immer so recht, was in ihr vorgeht. «Ich muss das schaffen. Ich habe mir die zwei Kinder ja gewünscht», dachte sie immer wieder. Es dauerte mehrere Monate, bis sie sich professionelle Hilfe holte.

Aufenthalt auf der Mutter-Kind-Abteilung

Ihr kam ein Fragebogen in den Sinn, den ihre Hebamme ihr nach der Geburt vorsorglich gegeben hatte. Das Ergebnis des Fragebogens deutete auf die psychische Erkrankung Postpartale Depression hin. «Das gab mir den Mut, mich auf die Suche nach einer Therapeutin zu machen und mich bei meinem Hausarzt zu melden.»

In der Psychotherapie fühlte sich Tina Gut verstanden, doch die Depression war tiefgreifend. Es brauchte mehr als eine wöchentliche Therapiesitzung. Zuflucht fand sie in der Mutter-Kind-Abteilung des Spitals Affoltern. Auf der psychiatrischen Abteilung, die speziell auf Mütter ausgerichtet ist, verbrachte sie acht Wochen mit ihrer Tochter. Gespräche mit Ärztinnen und Therapeutinnen, Bewegung sowie Medikamente gegen die Depression und fürs Schlafen halfen ihr, wieder Kraft zu finden. Zudem betreute das Spital die Tochter jeweils während sechs Stunden pro Tag. Das gab ihr Luft, um auf ihre eigenen Bedürfnisse zu hören.

Auch tat es ihr gut, die anderen Betroffenen zu sehen und so zu spüren, dass sie nicht alleine mit der Situation ist.

Neue App soll aufklären und unterstützen

Dass Eltern diese Erfahrung guttun kann, haben auch Lina Haag und Valerie Bachmann schnell gemerkt. Die beiden Studentinnen der Hochschule Luzern haben sich in ihrer Abschlussarbeit mit Postpartaler Depression beschäftigt. In Gesprächen mit ehemals Betroffenen wollten sie mehr über ihre Probleme und Bedürfnisse im Zusammenhang mit der Krankheit erfahren.

Mithilfe der Ergebnisse haben die beiden den Prototyp einer App entwickelt. Dafür waren sie auch im Austausch mit dem Verein Postpartale Depression Schweiz. Der Plan ist, dass die App gemeinsam mit dem Verein realisiert wird. Die Gespräche dazu laufen.

Die App von Haag und Bachmann klärt Betroffene und werdende Eltern über die Erkrankung auf. Neben Fachpersonen kommen auch ehemals Betroffene in Video- und Audiobeiträgen zu Wort und berichten über ihre Erfahrungen. Die App soll den Betroffenen der Erkrankung Patinnen vermitteln, die sie unterstützen sowie weitere Anlaufstellen auflisten. Ebenfalls aufrufbar sein soll die Edinburgh-Postnatal-Depressions-Skala, jener Fragebogen, den auch Tina Gut damals ausfüllte.

Erkrankung beschäftigt die Studentinnen auch privat

Die beiden Studentinnen haben sich während der Recherche mit ihren Müttern zusammengesetzt. «Wir haben gemerkt, dass wahrscheinlich beide eine Postpartale Depression durchgemacht hatten», erzählt die 23-jährige Valerie Bachmann.

Der Begriff sei zuvor jedoch nie gefallen. «Wir sind erstaunt, wie verbreitet die Krankheit ist und dass trotzdem so viele nicht darüber Bescheid wissen», ergänzt die 22-jährige Lina Haag. Für die beiden war schnell klar, dass sie sich des Themas annehmen und es so auch mehr in den Fokus der Gesellschaft rücken wollen.

Lina Haag (links) und Valerie Bachmann (rechts) bei der Übergabe des Zeix Awards, mit dem ihre Bachelorarbeit ausgezeichnet wurde. (Bild: zvg)

Tina Gut hätte sich damals eine App wie die von Haag und Bachmann gewünscht, erzählt sie. «Als Eltern bekommt man ständig Tipps, wie man das Kind ernähren soll oder wie man es ins Bett bringt. Doch die psychische Gesundheit der Eltern ist verhältnismässig kaum Thema», sagt Gut. Durch den Verein Postpartale Depression Schweiz ist sie damals auf Erfahrungsberichte von anderen Betroffenen gestossen. Durch die App wären diese noch niederschwelliger zugänglich.

So geht es der Mutter heute

Vor wenigen Tagen hatte Tina Gut die letzte Psychotherapiesitzung – rund drei Jahre nach dem Austritt aus der Mutter-Kind-Station. Die Antidepressiva nimmt sie weiterhin. Kraft tankt sie ausserdem in der Tanz- und Bewegungstherapie. «Ich hätte nie gedacht, dass es noch so lange dauern würde», sagt Gut. Die Genesung nehme Zeit in Anspruch.

Laut dem Verein Postpartale Depression Schweiz dauert die Erkrankung nur in Einzelfällen länger als ein Jahr. In der Regel leiden die Betroffenen «mehrere Monate» unter den Symptomen, schreibt der Verein auf seiner Website.

Die Krise hat Tina Gut nun hinter sich. Sie habe es gestärkt heraus geschafft, wie sie sagt. Ob sie sich nochmals für ein zweites Kind entscheiden würde, wenn sie wüsste, was auf sie zukommen kann? «Ja», meint sie. «Mit meiner Erfahrung und meinem jetzigen Wissen würde ich es aber anders machen. Ich würde mir viel schneller Hilfe holen. Therapeutische Unterstützung, aber auch bei der Betreuung der Kinder.»

Brauchst du Unterstützung?

Auf der Website vom Verein Postpartale Depression Schweiz findest du mehr Informationen zur Krankheit. Aufgelistet sind dort unter anderem auch Selbsthilfegruppen für Betroffene sowie Listen mit Fachleuten. Die neue Website des Vereins, der demnächst Periparto Schweiz heisst, ist gerade im Aufbau.

Darüber reden hilft

Wenn es dir nicht gut geht und du reden willst, kannst du rund um die Uhr die Nummer 143 der Dargebotenen Hand wählen.

Ebenfalls 24/7 erreichbar unter der Nummer 0848 35 45 55 ist der Elternnotruf. Dort erhalten Eltern, Familien und Bezugspersonen Beratungen von Fachpersonen.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Tina Gut
  • Beitrag der Hirslanden-Gruppe zum Thema Postpartale Depression
  • Website vom Verein Postpartale Depression Schweiz
  • Persönliches Gespräch mit Lina Haag und Valerie Bachmann
  • Website der Hochschule Luzern zu den Abschlussarbeiten
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