Die Fussballvereine FC Kickers und SC Obergeissenstein müssen sich grobe Vorwürfe anhören. Es geht um Einsätze von starken Juniorenspielern bei schwächeren Mannschaften.
Eine Fussballmannschaft, die drei Spiele vor Saisonende abgeschlagen mit einem Punkt auf dem letzten Tabellenrang ist und sich dann mit drei hohen Siegen den Ligaerhalt erkämpft – das klingt nach einem einwandfreien Sportmärchen.
Es ist die Geschichte der 2. Mannschaft der B-Junioren des FC Kickers und SC Obergeissenstein – die beiden Stadtluzerner Vereine legen üblicherweise ihre C-, B- und A-Junioren in den Teams OG Kickers zusammen. Hinter dem Ligaerhalt der B-Junioren, geschehen in der vergangenen Saison, stehen aber Fragezeichen bezüglich Fairplay.
Ein Leserreporter, der anonym bleiben möchte, erhebt harte Vorwürfe gegen die zwei Stadtvereine. Sie hätten systematisch den Wettbewerb bei den jugendlichen Fussballern verzerrt und frappant unsportlich agiert, um sich einen eigenen Vorteil zu ergattern. Zudem habe der Innerschweizer Fussballverband (IFV) die Verantwortlichen ungeschoren davonkommen lassen.
Aufholjagd in extremis
Von vorn: Die vergangene Saison begann nicht gut für die zweite B-Juniorenmannschaft des Teams OG Kickers. In sieben Spielen erlitten die 15- und 16-jährigen Jungfussballer aus Luzern sechs Niederlagen. Der Abstieg schien besiegelte Sache. Doch dann geschah Seltsames. Im drittletzten Spiel gewann die Mannschaft plötzlich 0:8 gegen den SG Malters/Wolhusen.
Im nächsten Spiel gegen den FC Hochdorf gab es einen Sieg mit dem gleichen Resultat. Und den FC Willisau bodigten die Stadtluzerner zum Saisonabschluss in einem Nachtragsspiel mit 1:5. Was war geschehen? Gab es eine Taktikumstellung? Hatte die Mannschaft eine sportliche Sternstunde?
Nein, meint der Leserreporter. Um den Ligaerhalt zu schaffen, hätten die Verantwortlichen bei OG Kickers die Spieler der stärkeren ersten B-Juniorenmannschaft zur Hilfe in die schwächere Mannschaft geschickt. Und die eigentlichen Spieler der zweiten Mannschaft auf die Bank verbannt.
Grundsatzfragen drängen sich auf
Für den Leserreporter ist klar: Dieses Verhalten widerspreche den Grundprinzipien des fairen Sports und vermittle den jugendlichen Sportlern falsche Werte. Überdies frustriere dieses Vorgehen die anderen Mannschaften in der Liga. Teams, die nicht über solche Möglichkeiten verfügen würden, hätten nun absteigen müssen.
Der Leserreporter führt aus: «Es handelt sich um keine Einzelfälle, sondern um eine systematische Ausnutzung der Spielregeln über mehrere Saisons hinweg.» Der IFV bleibe derweil untätig – Konsequenzen gebe es keine. Und der Einsatz der besseren Spieler sei explizit auf Anweisung des FC-Kickers-Präsidenten erfolgt.
«Regiofussball» berichtete im Juni über die Vorfälle. Mehrere Trainer aus derselben Ligagruppe meldeten sich daraufhin beim Onlineportal und bestätigten gemäss einem Artikel die Ereignisse. Wie «Regiofussball» festhält, sei dies eine regelkonforme und durchaus verbreitete Praxis im Schweizer Breitenfussball.
«Kritik aufgenommen und aufgearbeitet»
Die Präsidenten der beiden Vereine, Emanuel Willi und Raphael Weltert, schreiben in einer Stellungnahme gegenüber zentralplus, dass sie die Kritik vom Juni «aufgenommen und intern aufgearbeitet» hätten.
Regelverstösse habe es aber keine gegeben. Sonst, so Willi und Weltert weiter, wären die fraglichen Partien vom Verband mit Forfaitniederlagen bestraft worden.
Ein zweiter Vorwurf
Die Vorwürfe gehen aber noch weiter. Die erste C-Juniorenmannschaft der OG Kickers wurde in der vergangenen Frühlingsrunde Schweizer Meister. Der Leserreporter vermutet auch hier unfaire Mittel.
Dank der sogenannten Carte Blanche hätten regelmässig mehrere Spieler, welche aufgrund ihres zu hohen Alters eigentlich nicht mehr bei den C-Junioren hätten spielen dürfen, das Team verstärkt. C-Junioren sind 13 oder 14 Jahre alt. Spieler, die ein Jahr älter sind, können technisch und körperlich entscheidende Vorteile haben.
Die gegnerischen Teams SV Muttenz, Zürich City SC und der FC Rapperswil-Jona hätten deshalb Protest eingelegt – allerdings erfolglos. «Der Innerschweizer Fussballverband unterstützt diese Unfairness durch das Ausstellen der Carte Blanche», kritisiert der Leserreporter.
Die Carte Blanche
Die Carte-Blanche-Regelung wurde eingeführt, um einzelnen Spielern den Verbleib in einer niedrigeren Altersklasse zu ermöglichen, wenn sie körperlich oder mental noch nicht so entwickelt sind wie ihre Mitspieler. Ziel ist die optimale Förderung aller Jungsportler.
Die Verantwortlichen des FC Kickers und des SC Obergeissenstein hätten diese Regelung in den vergangenen Saisons aber missbraucht, lautet der Vorwurf. Sie hätten leistungsstarke Spieler systematisch für eine Carte Blanche angemeldet, um ihren Teams sportliche Vorteile zu verschaffen, so der Leserreporter.
Striktere Regeln eingeführt
Auf die neue Spielzeit 2024/25 hin verschärfte der IFV die Regeln für die Carte Blanche. Jedem Gesuch muss ein ärztliches Zeugnis beigelegt werden. Und Spieler mit einer solchen Bewilligung dürfen nicht mehr in der höchsten Stärkeklasse ihres Alters zum Einsatz kommen.
Gemäss dem Leserreporter haben die Anpassungen aber in Hinsicht auf den mutmasslichen Missbrauch der Carte Blanche keine Wirkung. Im Spiel der ersten C-Juniorenmannschaft von OG Kickers gegen den FC Littau am 9. September seien erneut mehrere Spieler, die jahrgangsmässig bei den älteren B-Junioren spielen müssten, für die C-Junioren im Einsatz gestanden.
Präsidenten weisen Vorwürfe von sich
Inwiefern dabei von einem Missbrauch gesprochen werden kann, ist jedoch fraglich. Die Präsidenten der beiden Vereine, Emanuel Willi und Raphael Weltert, weisen die Vorwürfe in einer gemeinsamen Stellungnahme entschieden von sich.
Die Spieler, die eine Carte Blanche haben, hätten diese aufgrund eines ärztlichen Attests, und das Ganze sei vom Verband genehmigt. Andere Fussballclubs würden von der Regelung ebenfalls Gebrauch machen. Ein anonymer Schreiber verbreite diesbezüglich seit Wochen Unwahrheiten und verunglimpfe OG Kickers bei Trainern, Funktionären und den Medien.
Die Präsidenten führen aus: «Leider stellt dies die wertvolle und erfolgreiche Arbeit, die in unseren Juniorenabteilungen täglich geleistet wird, komplett in den Hintergrund, was uns masslos enttäuscht.»
Spielpläne auf neue Saison hin vereinheitlicht
Fabian Wolf, Geschäftsführer des IFV, weist die Vorwürfe auf Anfrage von zentralplus ebenfalls zurück. Weder seien die Anschuldigungen richtig noch sei der IFV untätig. Die beiden Vereine hätten sich an das geltende Reglement gehalten, von systematischer Wettbewerbsverzerrung könne nicht die Rede sein.
Im Fall der B-Junioren führt Wolf aus, dass der IFV ab dieser Saison die Spielpläne vereinheitlicht habe, sodass die Saisons der verschiedenen Stärkeklassen gleichzeitig beginnen und enden. Zuvor endete die Saison der ersten Stärkeklasse bei den B-Junioren früher, wodurch der Einsatz mehrerer stärkerer Spieler in der schwächeren Mannschaft am Ende der vergangenen Frühlingsrunde terminlich überhaupt erst möglich wurde.
Eine Frage der Fairness, nicht der Regeln?
Was die C-Junioren und die Carte Blanche anbelangen, sagt Wolf: «Uns ist kein Fall bekannt, in welchem Spieler eingesetzt worden sind, welche missbräuchlich unter einer Carte Blanche gespielt haben. Jeder Spieler mit einer Carte Blanche wurde von einem Arzt kontrolliert und entsprechend anerkannt.» Überdies werde die Carte-Blanche-Regelung im kommenden Sommer nochmals überarbeitet.
Und Wolf hält fest: «Beim IFV ging in der ganzen Frühlingsrunde kein Antrag zur Kontrolle dieser Spieler ein.» Vereine können allfällige Verstösse jederzeit mittels Antrag vom Verband überprüfen lassen.
Es zeigt sich also letztlich: Die Kernfrage in der Diskussion rund um die Juniorenmannschaften von OG Kickers ist wohl nicht, ob Regeln gebrochen wurden. Wichtiger scheint, wie diese Regeln von Vereinen mit unterschiedlichen Ressourcen genutzt werden und ob dies als fair interpretiert wird.
Nathan Affentranger ist seit März 2024 Praktikant bei zentralplus. Er hat einen Entlebucher Dialekt, eine Antipathie für Beamtensprache und ein Masterdiplom in Philosophie. Am liebsten schreibt er über die kleinen Absurditäten des Alltags.