20 Jahre in der Magersucht gefangen

Tamara Weber: «Die Essstörung war alles, was ich hatte»

Heute begleitet Tamara Weber als Ex-Betroffene Menschen mit Essstörungen auf ihrem Weg zur Genesung. (Bild: ida)

Tamara Weber lebte 20 Jahre lang mit einer Essstörung. Der erste Gedanke morgens, der letzte Gedanke abends: Stets war sie da. Und der unbändige Drang, sich zu wiegen, noch mehr zu verzichten und dünner zu werden.

In ihrer schlimmsten Phase ass Tamara Weber nur noch einen Apfel täglich. Seit zehn Jahren hat die gebürtige Churerin, die in Zug wohnt, ihre Essstörung überwunden. Heute begleitet sie als Expertin und Coach andere Menschen mit dieser Krankheit.

zentralplus: Tamara Weber, Sie sagten einst: «Die Essstörung ist meine beste und einzige Freundin in meinem Leben.» Das klingt hart.

Tamara Weber: Alles drehte sich 24 Stunden am Tag ums Nichtessen, ich war nur noch mit meinem Körper beschäftigt. Ich war kaum in der Lage, Freundschaften oder Intimität mit anderen Menschen zuzulassen und aufrechtzuerhalten. Ständig erfand ich Notlügen, wenn mich jemand fragte, ob ich an ein Fest oder Treffen käme. Dies bedeutete für mich Kontrollverlust – denn ich wusste nicht, was es dort zu essen gibt. Immer mehr ging ich auf Distanz. Die Essstörung war alles, was ich hatte, an sie klammerte ich mich.

zentralplus: Eine Freundin sollte einem doch guttun und Halt geben.

Weber: Die Essstörung gab mir auch Halt und Sicherheit. Ständig bekam ich von aussen zu spüren, dass ich nichts kann. Ich fühlte mich selten akzeptiert und geliebt. Hungern war das, was ich konnte, in dem war ich diszipliniert. Zugleich war sie meine grösste Feindin, denn sie konnte mich umbringen.

zentralplus: Wann begann Ihre Essstörung?

Weber: Ich war etwa 15 Jahre alt, als ich mit Freundinnen in Lausanne campen ging. Bis dahin hatte ich ein gutes Verhältnis zu meinem Körper und zum Essen. Als wir die Zelte aufgeschlagen hatten und aus unseren Rucksäcken das Essen packten, bot ich allen einen Keks meiner Prinzenrolle an. Ausser mir hat niemand einen Keks gegessen. Eine Freundin schaute mich entsetzt an und sagte: «Das esse ich nicht, davon wird man dick.» Dieser Satz löste viel in mir aus. Danach begann es mit den Diäten und dem Verzicht auf Süssigkeiten.

zentralplus: Warum löste dieser eine Satz derart viel aus?

Weber: Magersucht ist eine komplexe Essstörung, die durch ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren entsteht, darunter biologische, genetische, psychologische und soziokulturelle Einflüsse. Besonders während der Pubertät wird bei Frauen das gesellschaftliche Ideal von Schlankheit stark hervorgehoben. Der Druck, diesen Erwartungen zu entsprechen, wuchs zunehmend in mir. Da ich bereits eine gewisse Anfälligkeit durch diese Faktoren in mir trug, reichte ein kleiner Auslöser aus, um die Essstörung vollständig zum Ausbruch zu bringen.

zentralplus: Wie ging es nach den Campferien in Lausanne mit ihren Freundinnen weiter?

Weber: Ich kontrollierte meinen Körper und mein Essverhalten. Erst fing es mit kleinen Verzichten an, dann mit strikten Diäten. Ich liess die Zwischenmahlzeiten aus, dann das Frühstück, dann das Mittagessen. In meiner kritischsten Phase ass ich nur noch einen Apfel am Tag, dies während rund eineinhalb Jahren. Damals wog ich noch 33 Kilogramm. Mehrmals täglich kontrollierte ich mein Gewicht. Ich wollte mich am liebsten in Luft auflösen. Ich dachte, dass ich es nicht wert sei zu leben. Und dass ich nicht wert bin zu essen.

zentralplus: 33 Kilogramm, hat ihr Umfeld denn nicht reagiert?

Weber: Nein. In meinem Umfeld haben alle weggeschaut. Ich kann es ihnen nicht übel nehmen, denn ich war Meisterin im Vertuschen. Ich trug mehrere Kleidungsschichten, und selbst im Sommer einen Schal, weil mein Körper so gefroren hat. Meine Freundinnen reagierten erst Jahrzehnte später, nachdem ich vor etwa zehn Jahren öffentlich über meine Essstörung gesprochen habe. Viele kamen auf mich zu.

zentralplus: Was sagten sie?

Weber: Dass sie sich überfordert und hilflos gefühlt haben. Und sie starke Schuldgefühle plagen, weil ihre Annahme richtig war. Viele waren selbst in ihren Themen gefangen.

zentralplus: Eine Magersucht ist meistens ein Hilferuf der Betroffenen. Hätten Sie sich gewünscht, dass jemand aus Ihrem Umfeld Sie zur Seite zieht und fragt, wie es Ihnen wirklich geht?

Weber: Ich frage mich immer wieder: Was wäre gewesen, wenn jemand hingeschaut hätte? Ich weiss nicht, ob ich die Hilfe hätte annehmen können. Für mich bedeutete dies lange Zeit, Schwäche zu zeigen. Ich wollte die Situation allein stemmen, denn ich hatte das Gefühl, ich müsse es allein schaffen.

zentralplus: Was raten Sie Eltern und Freundinnen, wenn diese spüren, dass jemand immer dünner wird? Wie sollten sie reagieren?

Weber: Als Erstes: hinsehen. Eltern sollen Veränderungen und Herausforderungen im Leben ihres Kindes bewusst wahrnehmen. Und auf feine Signale achten und sich nicht scheuen, genau hinzuschauen. Dann: ansprechen. Eltern können offen auf ihr Kind zugehen, wenn diese Sorgen oder Unsicherheiten haben. Behutsam können sie über das sprechen, was ihnen auffällt, und Unterstützung anbieten. Auf Vorwürfe oder Kritik sollte verzichtet werden – es geht darum, Verständnis zu zeigen und gemeinsam eine Lösung zu finden. Und: Eltern dürfen sich selbst Unterstützung holen. Sei das durch Fachpersonen, Selbsthilfegruppen oder Gesprächen mit anderen Eltern. Sie müssen nicht alles allein bewältigen.

Hier bekommst du Hilfe

Reden hilft. Wähle die Nummer 143 der «Dargebotenen Hand», wenn es dir nicht gut geht oder du dir Sorgen um jemand anderen machst. Kostenlos und rund um die Uhr wird dir auch über die Nummer 147 (Pro Juventute) geholfen.

Tamara Weber bietet allen ein kostenloses Erstgespräch an. Wer IV oder Sozialhilfe bezieht, hat ebenfalls die Chance auf monatlich limitierte kostenlose Beratungen, dank der Zusammenarbeit mit dem Verein «GLEICH UND ANDERS Schweiz». Weber arbeitet zudem mit der CSS zusammen. Wer bei der CSS versichert ist, für den übernimmt die Krankenkasse die Kosten für Coachings bei Weber. Dabei handelt es sich um ein Pilotprojekt und Schweizer Pionierarbeit.

zentralplus: Wie ging es Ihnen damals?

Weber: Ich litt lange Zeit auch an Depressionen und Zwängen – Begleiterscheinungen meiner Essstörung. Nach meinem 20. Lebensjahr plagten mich Selbstmordgedanken. Oft schloss ich mich in meiner Wohnung ein und hatte Mühe, mich aufzuraffen, um am Leben überhaupt teilzunehmen.

zentralplus: Wann realisierten Sie selbst, dass Sie eine Essstörung haben?

Weber: An einem verschneiten Wintertag, damals in Chur, lief ich zu einer Telefonzelle und rief eine Notrufhotline an. Ich erzählte, dass eine Freundin immer weniger esse und sie immer dünner werde. Die Frau am anderen Ende der Leitung wusste natürlich, dass es nicht um eine Freundin, sondern um mich ging. Ich erklärte, wie viel diese Freundin noch wiege, und wollte wissen, welche «Krankheit» sie habe. Sie sagte, dass dieses Mädchen an Magersucht leide und sie Glück habe, noch zu leben. Wenn sie so weitermache, könne sie sterben. Bis dato wusste ich nicht mal, was eine Essstörung ist. Ich lief aus der Telefonkabine und schaute in den Himmel. Die Schneeflocken fielen auf mein Gesicht. Immer wieder hörte ich ihre Worte.

zentralplus: Wie ging es weiter?

Weber: Ich lief zur nächsten Bibliothek und deckte mich mit Fachliteratur zu Magersucht ein. Wochenlang setzte ich mich mit diesen Recherchen auseinander. Zum ersten Mal in meinem Leben realisierte ich, was mit meinem Körper passierte.

zentralplus: Dennoch kämpften sie noch über 15 Jahre mit der Essstörung.

Weber: Ja. Das Realisieren war das eine. Bis ich meine Essstörung auch annehmen und etwas ändern konnte, dauerte es 18 weitere Jahre. Ich wollte alles mit mir allein ausmachen. Es folgten viele Jahre, in denen ich alles analysierte, hinterfragte und reflektierte. Ich lernte, mit negativen Gefühlen wie Scham, Trauer und Wut umzugehen und diese Gefühle nicht zu unterdrücken. Gesund zu leben und dass ich nicht alles kontrollieren kann. Eigentlich therapierte ich mich selbst. Ich war nicht bereit, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, da ich immer das Gefühl hatte, ich therapiere meine Therapeuten. Was ich aber suchte, war der Austausch mit Ex-Betroffenen. Für mich war es enorm wichtig, mit Menschen zu sprechen, die den Weg aus der Essstörung gefunden haben.

Tamara Weber steht seit zehn Jahren als Expertin für Essstörungen in der Öffentlichkeit. (Bild: ida)

zentralplus: Wie geht es Ihnen heute?

Weber: Seit zehn Jahren habe ich die Essstörung überwunden. Ich kann wieder mit Genuss und ohne Scham essen. Ich gliedere Nahrungsmittel in meinem Kopf nicht mehr in die Kategorien schlecht und gut, alle Nahrungsmittel sind neutral. Auf die Waage stehe ich schon lange nicht mehr.

zentralplus: Sie treten seit einigen Jahren als Expertin für Essstörungen in der Öffentlichkeit auf und helfen Betroffenen. Warum?

Weber: Ich spreche in der Öffentlichkeit über meine Essstörung und den Weg daraus, um Menschen zu sensibilisieren und das Thema zu entstigmatisieren. Ich möchte, dass sich niemand allein fühlt. Es ist alles andere als eine Schwäche, Hilfe anzunehmen. Mir selbst hat der Austausch mit Betroffenen geholfen. Deswegen verfolge ich den Peer-Ansatz – das heisst von Ex-Betroffenen für Betroffene. Die gemeinsamen Erfahrungen sind die Basis für eine vertrauensvolle Unterstützung. Auf dem Weg zur Genesungsbegleiterin habe ich zahlreiche Ausbildungen gemacht, etwa jene zum «Neuro Regulation Coach» oder solche mit Fokus auf Entwicklungstraumata. Von letzterem sind viele meiner Klientinnen konfrontiert.

zentralplus: Coaches spriessen seit Corona wie Pilze aus dem Boden. Es ist es kein geschützter Begriff. Worin sehen Sie Ihren Mehrwert?

Weber: Ich verstehe Betroffene, denn ich habe Ähnliches wie sie durchgemacht. Ich kann ihnen auf Augenhöhe begegnen. Das ist wichtig, um Vertrauen aufzubauen. Gerade Anorexie-Betroffene können nicht so einfach anderen vertrauen, weil sie das Gefühl haben, alle sind gegen sie. Viele sagen mir: «Endlich versteht mich jemand.» Ich begleite meine Klientinnen meistens digital, wir tauschen uns regelmässig über (Video-)Telefonate aus, auch auf Whatsapp bin ich erreichbar, um schnell reagieren zu können. Zudem berate ich Eltern, werde für Workshops an Schulen gebucht. Und ich arbeite eng mit Fachpersonal in Kliniken und ambulanten Einrichtungen zusammen.

zentralplus: Was möchten Sie Betroffenen mit auf den Weg geben?

Weber: Ich möchte Menschen Mut und Hoffnung vermitteln, dass Genesung zu 100 Prozent möglich ist. Niemand ist allein. Und jeder Mensch hat Berechtigung auf Heilung und Hilfe. Dafür muss sich niemand schämen, denn es ist keine Schwäche. Im Gegenteil, es zeugt von einer unglaublichen Stärke, für sich selbst einzustehen.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Tamara Weber
  • Website von Tamara Weber
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