Wer will ein fremdes Kind betreuen?

Pflegeeltern verzweifelt gesucht: Expertin schlägt Alarm

Michelle Sutter von der Pflegekinder-Aktion Zentralschweiz warnt, dass es bald nicht mehr genügend Plätze für Pflegekinder gibt. (Bild: Symbolbild: Adobe Stock/zvg)

Im Kanton Luzern fehlt es zunehmend an Pflegeeltern. Für die grösste Zentralschweizer Betreuungsorganisation ist klar: So kann es nicht weitergehen.

Rund 200'000 Kinder und Jugendliche in der Schweiz leben in belasteten familiären Verhältnissen. Manche von ihnen sind fremdplatziert, weil ihre Eltern psychisch krank, drogensüchtig, gewalttätig oder mit der Erziehung überfordert sind.

Als ob es diese Kinder nicht schon schwer genug hätten, kommt nun ein weiteres Problem hinzu: Es fehlt immer öfter an Pflegeeltern. Vor einem halben Jahr lancierte der Kanton Waadt deshalb eine Kampagne. Mit dieser sollten 50 neue Familien für Pflegekinder gefunden werden, denn die Anzahl Pflegekinder nehme zu, die Anzahl Pflegefamilien aber ab. Bis im Juli konnte der Kanton nur vier neue Pflegefamilien organisieren, 14 befinden sich noch im Bewerbungsprozess, schrieb die «Neue Zürcher Zeitung».

«Die Lage ist angespannt»

Auch im Kanton Luzern wird das Problem zunehmend grösser, wie Michelle Sutter auf Anfrage von zentralplus sagt. Die Abteilungsleiterin der stationären Angebote der Fachstelle Kinderbetreuung, Pflegekinder-Aktion Zentralschweiz, erklärt: «Die Lage ist angespannt und die Situation sehr herausfordernd.»

Der Kanton Luzern hat das Probleme ebenfalls erkannt, wie einem aktuellen Planungsbericht über die sozialen Einrichtungen 2024 bis 2027 zu entnehmen ist: «Sämtliche Dienstleistungsanbieter in der Familienpflege äusserten Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von neuen und geeigneten Pflegefamilien.» Dabei muss man wissen, dass im Kanton Luzern fünf Organisationen für die Platzierung der Kinder und Jugendlichen bei Pflegefamilien zuständig sind.

«Wenn sich die Situation weiter so entwickelt, werden die Luzerner Organisationen das vom Kanton gewünschte Ziel nicht erreichen können.»

Michelle Sutter, Abteilungsleiterin der stationären Angebote der Fachstelle Kinderbetreuung, Pflegekinder-Aktion Zentralschweiz

Die Fachstelle Kinderbetreuung betreut im Kanton Luzern rund hundert Pflegefamilien und ist damit die grösste solche Organisation in der Zentralschweiz. Um dieses Angebot aufrechtzuerhalten, sollte der Verein gemäss Michelle Sutter etwa ein Dutzend Pflegefamilien pro Jahr ausbilden können. «Mittlerweile müssen wir aber froh sein, wenn es vier bis fünf sind.» Früher hätten an Infoveranstaltungen jährlich bis zu 150 Interessierte teilgenommen, 2023 seien es 37 gewesen. Zwar habe man viele Interessierte digital erreichen können, davon seien aber nur einige wenige Bewerbungen eingegangen.

Immer mehr Plätze benötigt

Immer weniger Interessierte, immer mehr Kinder – das ist zusammengefasst das Problem. Denn der Kanton rechnet mit einem weiteren Anstieg an Kindern und Jugendlichen, die extern – also nicht in ihrem ursprünglichen Zuhause – betreut werden müssen. Zwischen 2016 und 2022 verdoppelte sich die Anzahl Luzerner Kinder und Jugendlicher in Pflegefamilien. Waren es 2016 knapp 60 Personen, stieg der Wert danach laufend an und erreichte 2021 den – vorläufigen – Höhepunkt mit rund 130 Kindern und Jugendlichen, die in Pflegefamilien unterkamen.

«In einem hohen Szenario gehen wir davon aus, dass sich das Wachstum der letzten Jahre fortsetzt», schreibt der Kanton. Er rechnet mit 145 benötigten Plätzen im aktuellen Jahr und 165 Plätzen im Jahr 2027. Die Behörden gehen in diesem Szenario laut dem Planungsbericht von einem starken Anstieg des Platzbedarfs in Pflegefamilien aus dem Asyl- und Flüchtlingswesen aus.

Deswegen werden mehr Plätze benötigt

Michelle Sutter ergänzt: Viele Kinder und Jugendliche auf der Flucht würden unbegleitet in die Schweiz kommen und ein zu Hause benötigen. Sie hätten traumatische Erfahrungen gemacht und würden nun einen passenden Rahmen benötigen, um damit umgehen zu können. In anderen Fällen hätten geflüchtete Eltern Traumatisches erlebt und könnten sich deswegen nicht mehr adäquat um ihre Kinder kümmern.

Sie nennt zudem das Bevölkerungswachstum als weiteren Grund für den erwarteten Anstieg. Zudem litten immer mehr Menschen an psychischen Erkrankungen oder sie seien in der heutigen Gesellschaft überfordert, weswegen sie ihre Elternaufgaben nicht wahrnehmen könnten.

Für Sutter ist klar: «Wenn sich die Situation weiter so entwickelt wie bisher, werden die Luzerner Organisationen das vom Kanton gewünschte Ziel von 165 Plätzen bei Pflegeeltern bis 2027 nicht erreichen können.»

Gesellschaftlicher Wandel, Individualismus und Kurzlebigkeit

Doch weshalb lassen sich immer weniger Paare finden, die ein Kind oder einen Jugendlichen bei sich zu Hause aufnehmen wollen? Der Kanton Luzern will genau das herausfinden, wie René Helfenstein, Abteilungsleiter Kindheit-Jugend-Familie und Integration in der Dienststelle Soziales und Gesellschaft, sagt. Die Dienststelle hat deswegen zusammen mit der Hochschule Luzern ein Projekt lanciert. Dabei sollen auch Massnahmen ausgearbeitet werden, um die Rekrutierungsprobleme anzugehen.

«Man möchte sich heute nicht mehr längerfristig binden.»

Michelle Sutter

Konkreter wird Michelle Sutter, wobei auch sie darauf hinweist, dass es lediglich Hypothesen seien. Ihr zufolge habe die abnehmende Bereitschaft, für eine gewisse Zeit ein fremdes Kind bei sich aufzunehmen, mit dem gesellschaftlichen Wandel, dem zunehmenden Individualismus und der Kurzlebigkeit zu tun. «Man möchte sich heute nicht mehr längerfristig binden», sagt sie.

Neue Modelle gesucht

Sutter sieht jedoch nicht nur mögliche Pflegefamilien in der Pflicht. Die Lebensrealitäten von Familien und Paaren hätten sich in unserer Gesellschaft innerhalb der letzten Jahre verändert. «Deshalb sind wir gefordert, neue Pflegefamilienmodelle zu kreieren und zu erproben, welche mit dem Qualitätsstandard der Fachstelle Kinderbetreuung kompatibel sind. Wir möchten signalisieren, dass wir offen sind, uns mit den gesellschaftlichen Realitäten weiterzuentwickeln.» Das würde also auch bedeuten, einige der Regeln zu lockern. Ein zentrales Thema sei die Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder die Berücksichtigung von neuen Lebensmodellen generell.

René Helfenstein vom Kanton ergänzt, dass es wichtig sein werde, bestehende Vorgaben den sich verändernden Strukturen und gesellschaftlichen Themen so weit wie möglich anzupassen. «Das Wohl und der Schutz der ausserfamiliär untergebrachten Kinder und Jugendlichen müssen jedoch stets handlungsleitend sein.»

Löst mehr Geld das Problem?

Was bisher weniger im Fokus der Diskussionen stand, ist die Entschädigung der Pflegeeltern. Zwar sei diese «eher symbolisch, quasi vergleichbar mit einem Nebenerwerb». Der finanzielle Anreiz dürfe aber nicht zuvorderst stehen, sagt Sutter. Denn: «Diese Aufgabe ist eine Herzensangelegenheit. Man muss Freude an Kindern und Jugendlichen haben. Wenn man es nur des Geldes wegen macht, ist die Motivation eine falsche.»

Aber ja, die Entschädigung für Pflegeeltern müsse sicher auch im Auge behalten werden und dürfe in Anbetracht der Wichtigkeit der Aufgabe auch höher ausfallen. Heute erhalten Pflegeeltern im Kanton Luzern monatlich knapp 2800 Franken brutto für ein Kind.

Adoptionen: Genügend Paare, immer weniger Kinder

Eng mit dem Thema Pflegekinder verknüpft sind Adoptionen. Der Unterschied: Adoptierte Kinder sind rechtlich gesehen leiblichen Kindern des Paares gleichgesetzt, Pflegekinder werden «nur» betreut, zumeist vorübergehend.

Einen Mangel an adoptionswilligen Paaren gibt es in der Schweiz nicht, sagt Barbara Hinnen, Fachmitarbeiterin der Organisation Pflege- und Adoptivkinder Schweiz – die nationale Anlaufstelle für die Themen Pflege- und Adoptivfamilie. «Wir finden stets passende Eltern für ein zur Adoption freigegebenes Kind.»

Nichtsdestotrotz geht die Zahl der Adoptionen in der Schweiz seit 1980 kontinuierlich zurück, wie das Bundesamt für Statistik schreibt. 1980 wurden knapp 1600 Kinder in der Schweiz adoptiert, 2023 waren es noch 355, 26 davon im Kanton Luzern. Der Rückgang erkläre sich durch Gesetzesänderungen zum Schutze des Kindes, weniger unerwünschte Schwangerschaften sowie die verbesserte Akzeptanz lediger Mütter, schreiben die Statistiker des Bundes. Sprich: Es gibt also kaum weniger Eltern, die ein Kind adoptieren möchten, sondern schlicht weniger Kinder, die für eine Adoption infrage kommen.

«Eine sinnstiftende und im positiven Sinne herausfordernde Aufgabe»

Doch zurück zu den Pflegeeltern. Michelle Sutter von der Fachstelle Kinderbetreuung, Pflegekinder-Aktion Zentralschweiz, will die Bevölkerung für das Thema sensibilisieren. «Wir müssen die Gesellschaft darauf aufmerksam machen, dass es auch in der Schweiz und in der Zentralschweiz viele Pflegekinder gibt.» Die Organisation tue das mit verschiedenen Aktionen und Massnahmen.

Für Sutter ist klar: «Sich um ein Pflegekind zu kümmern, ist eine sinnstiftende und im positiven Sinne herausfordernde Aufgabe. Es ist eine Horizonterweiterung und man übernimmt damit Verantwortung für die Gesellschaft.»

Verwendete Quellen
  • Planungsbericht über die sozialen Einrichtungen des Kantons Luzern, 2024 bis 2027
  • Telefonischer Austausch mit Michelle Sutter, Fachstelle Kinderbetreuung der Pflegekinder-Aktion Zentralschweiz
  • Schriftlicher Austausch mit René Helfenstein, Abteilungsleiter Kindheit-Jugend-Familie und Integration in der Dienststelle Soziales und Gesellschaft des Kantons Luzern
  • Schriftlicher Austausch mit Barbara Hinnen, Fachmitarbeiterin der Organisation Pflege- und Adoptivkinder Schweiz
  • Zahlen des Bundesamts für Statistik
  • Artikel der «NZZ»
  • Entschädigung für die Betreuung von Pflegekindern im Kanton Luzern
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