Bis zu 500-mal stärker als Heroin

Neue Droge in Luzern entdeckt: Sie tötet schon in kleinen Dosen

Finger weg: Nitazene sind synthetische Opioide. Schon kleine Dosen können in einer tödlichen Atemdepression enden. (Bild: Institut für Rechtsmedizin der Universität Basel/Drogeninformation Luzern)

In vielen Ländern sind synthetische Opioide wie Fentanyl gefürchtet. Sie sorgen für Tausende von Drogentoten. In Luzern wurde eine weltweit noch unbekannte Substanz zum Testen abgegeben. Europaweit tauchte sie zum ersten Mal auf. Sie ist noch gefährlicher als Fentanyl.

August 2023, Drogeninformation Luzern (Dilu): Jeden Montagabend können hier Partygängerinnen und Freizeitkonsumenten eine Probe ihrer gekauften Drogen abgeben. Oft weisses Pulver – Koks –, bunte Pillen – MDMA – und noch buntere LSD-Filze. So erfahren sie, was wirklich in ihren psychoaktiven Substanzen drin ist (zentralplus berichtete).

An jenem Montagabend war alles ein wenig anders: Eine Person reichte ein Plastiksäckchen über den Tisch des Drug-Checking, darin ein beiges Pulver. Isonitazen – ein synthetisches Opioid – soll es sein, das jedenfalls gab der Verkäufer im Internet an. Gezahlt hat die Person ungefähr 34 Franken pro Gramm. Die Substanz habe die Person zum ersten Mal nehmen wollen, aus Neugierde. So erzählt es Olivia Allemann, die Betriebsleiterin der Dilu.

Die Dilu schickte die Probe anschliessend ins Labor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Basel (IRM). Doch die Laboranten staunten nicht schlecht: Zwar konnten sie herausfinden, dass die Substanz zur Nitazen-Gruppe gehört. Doch es war etwas anderes, als die Dealer angegeben hatten, eine Substanz, die weder in der Fachliteratur noch jemals zuvor irgendwo beschrieben wurde. Eine weltweit unbekannte Substanz.

So kam es, dass sich ein siebenköpfiges Forscherinnenteam um Manuela C. Monti formierte, die damals am IRM Basel arbeitete. Sie machten sich an weitere, komplexere chemische Analysen. Nun haben Monti und weitere Experten im Bereich der forensischen Chemie und Toxikologie eine Studie zur Drogenprobe aus Luzern veröffentlicht. Was in Luzern abgegeben wurde? N-Desethyl Etonitazen.

Die Probe aus Luzern. (Bild: zvg/IRM Basel)

Nitazen: Schmerzmittel, das nie zugelassen wurde

Was sind Nitazene? Nitazene wurden vom Schweizer Chemieunternehmen Ciba in den 1950-er Jahren als Schmerzmittel entwickelt. Zugelassen wurden sie jedoch nie, denn sie verlangsamten die Atmung.

Kriminelle Chemiker haben offenbar Forschungsunterlagen durchforstet, um neue synthetische Opioide herzustellen. So sind sie wohl auch auf Nitazene gestossen.

Nitazene haben viele Abwandlungen. Es gibt Isotonitazen, Metonitazen, Etonitazen oder Protonitazen. Sie wirken unterschiedlich – wuchtig sind sie in ihrer Wirkung in jedem Fall. Viele dieser Substanzen wirken rund 100-Mal stärker als Morphin und 50 Mal stärker als Heroin. Das sagt Marc Marthaler. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Infodrog, der Schweizerischen Koordinations- und Fachstelle Sucht.

Gemäss internationalen Medienberichten sind Nitazene seit März 2019 in der Drogenszene verbreitet. Vor allem in den USA und in Grossbritannien ist man besorgt über den zunehmenden Konsum synthetischer Strassendrogen wie Nitazenen. In Grossbritannien sind von Juni 2023 bis März dieses Jahres 54 Menschen an den Folgen der Opioid-Variante gestorben, berichtete die Kriminalpolizei des Landes.

Etonitazen: Bis zu 500-mal stärker als Heroin

Die neue Droge, die nun in Luzern entdeckt wurde, ist besonders gefährlich. Laut Manuela Monti ist sie chemisch gesehen sehr ähnlich zu Etonitazen. Etonitazen ist extrem potent. Gemäss «The Lancet», einer der ältesten und renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften der Welt, wirken Etonitazene 500-mal stärker als Heroin.

Es fehlen jedoch klinische Studien an Menschen oder Tieren, deshalb handle es sich nur um eine Schätzung, erläutert Monti.

In der Studie stellte sich heraus, dass die Probe aus Luzern – N-desethyl-Etonitazen – zwischen sechs- bis neunmalmal so stark wie Fentanyl ist. Fentanyl ist ebenfalls ein synthetisches Opioid, das vor allem in den USA für grosses Elend sorgt und jährlich Tausende das Leben kostet. Fentanyl ist etwa 50-mal stärker als Heroin.

«Überdosierungen mit potenten Opioiden – so wie Fentanyl oder N-Desethyl-Etonitazen – können schnell und schon bei kleinen Dosen in einer tödlichen Atemdepression enden.»

Manuela C. Monti, Forscherin

Nitazene sind deswegen so gefährlich, weil sie kaum dosiert werden können und schnell zum Tod führen. «Überdosierungen mit potenten Opioiden – so wie Fentanyl oder N-Desethyl-Etonitazen – können schnell und schon bei kleinen Dosen in einer tödlichen Atemdepression enden», schreibt Monti auf Anfrage von zentralplus. Drug-Checking-Angebote wie die Dilu raten deswegen dringend, die Finger von solchen Substanzen zu lassen.

Hier findest du Hilfe

Jeden Montagabend hat die Dilu – Drogeninformation Luzern von 17.30 bis 19.30 Uhr geöffnet. Mehr Infos findest du hier. Die Abgabe einer Substanz ist jeweils mit einem Beratungsgespräch verbunden. Alles kostenlos und anonym.

Hier findest du alle aktuellen Substanzwarnungen des nationalen Warnungstools. Und auf know-drugs.ch findest du Infos zu allen Substanzen, Risiken, Nebenwirkungen und Safer Use.

Vom Konsum von Nitazenen raten Drug-Checkings dringend ab.

Wenn du dich um jemand anderen sorgst oder es dir selbst nicht gut geht, wähle die Nummer 143 der «Dargebotenen Hand». Kostenlos und rund um die Uhr hilft dir auch die Nummer 147 (Pro Juventute). Reden hilft.

Bisher in den USA, Toronto, Wellington – und Luzern

Die N-Desethyl-Etonitazen-Probe wurde in Luzern im August 2023 abgegeben. Damit ist es die erste Probe in ganz Europa. Ein Monat zuvor wurde die Droge weltweit zum ersten Mal zum Testen abgegeben. Dies in den USA.

Im Februar 2024 folgte eine Probe aus Toronto (Kanada), die fälschlicherweise als Fentanyl verkauft wurde. Im April 2024 wurde in Wellington (Neuseeland) in einer gefälschte Diazepam-Tablette N-Desethyl-Etonitazen nachgewiesen. Damit zeigt sich: Die Substanz verbreitet sich auf dem Markt für Freizeitdrogen – und bis sie nach Luzern gelangt, dauert es nur einen Klick auf dem Handy entfernt.

Wie verbreitet sind synthetische Opioide in der Schweiz?

Bis anhin sagten Experten, Nitazene seien in der Schweiz kaum verbreitet. Verbreiten sich die gefährlichen Substanzen nun doch auch hier?

«Glücklicherweise war jene Probe vom August 2023 bislang erst die zweite Probe eines synthetischen Opioids bei der Drogeninformation Luzern», sagt Allemann. Sie erklärt, dass Drug-Checking-Angeboten hier eine wichtige Rolle zukomme, da dadurch eine Früherkennung möglich wird. Gleichzeitig hofft sie natürlich, dass sich der Konsum von synthetischen Opioiden nicht verbreitet. Szenen wie in den USA, wo ungefähr alle sieben Minuten ein Mensch an den Folgen des Fentanyl-Konsums stirbt, wünscht sich hier keiner.

Olivia Allemann ist die Projektleiterin der Drogeninformation Luzern (Dilu). (Bild: ida)

Auch Marthaler von Infodrog gibt Entwarnung. «Nitazene sind in der Schweiz zurzeit noch kaum verbreitet», sagt er. Bis jetzt wurden in Schweizer Drug-Checking-Angeboten insgesamt vier Proben von synthetischen Opioiden abgegeben. Weiter seien durch das forensische Institut in Zürich gefälschte Oxycodon-Tabletten analysiert worden, welche Protonitazen enthielten.

Alle Proben wurden im Darknet bestellt, also nicht über die Gasse gedealt. Deswegen könne man laut Marthaler nicht daraus schliessen, dass synthetischen Opioide in der Schweiz angekommen seien. «Auf dem Schweizer Markt kursieren meines Wissens keine oder kaum Nitazene.» Infodrog seien auch keine Todesfälle in der Schweiz, die mit synthetischen Opioiden wie Nitazenen in Zusammenhang stünden, bekannt.

Heroin-Mangel könnte Lage zuspitzen

Auch die Forscherinnen gehen in ihrer Studie darauf ein, was der Fund aus Luzern bedeutet. Denn die beiden Proben aus den USA und aus Luzern wurden getestet, als die Gesundheitsbehörden in Europa gar noch nicht Bescheid wussten, dass die Droge existierte. Erst im Dezember 2023 erfolgte eine Meldung.

«Die Schweiz ist gut vorbereitet, falls eine ‹Welle von synthetischen Opioiden› über die Schweiz hereinbrechen sollte.»

Marc Marthaler, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Infodrog

«Wie dieses Beispiel zeigt, sind Drogenkontrolldienste nützlich, um neue Trends und Verbindungen auf dem Markt für Freizeitdrogen zu erkennen», halten die Forscherinnen fest. Dass neue synthetische Opioide aus der Nitazen-Gruppe auftauchen, sei zu erwarten gewesen.

Ein Grund gibt jedoch Anlass zur Sorge: Die Taliban haben in Afghanistan den Opiumanbau verboten. Aus Afghanistan stammte bisher ein Grossteil des hierzulande konsumierten Heroins. Experten befürchten, dass sich deswegen synthetische Opioide zunehmend verbreiten könnten. Eine Befürchtung, die Marthaler teilt.

Das Suchthilfesystem in der Schweiz sei jedoch sehr gut aufgestellt. «Entsprechend ist die Schweiz gut vorbereitet, falls eine ‹Welle von synthetischen Opioiden› über die Schweiz hereinbrechen sollte.»

Verwendete Quellen
  • Wissenschaftliche Studie von Manuela C. Monti & Co.
  • Schriftlicher Austausch mit Manuela C. Monti
  • Schriftlicher Austausch mit Marc Marthaler, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Infodrog
  • Telefonat mit Olivia Allemann, Betriebsleiterin Drogeninformation Luzern (Dilu)
  • Schriftlicher Austausch mit Eva Scheurer, Direktorin, Institut für Rechtsmedizin der Universität Basel (IRM)
  • Informationen von «The Lancet» zur Potenz von Nitazenen
  • Warnung auf Saferparty.ch zu einer abgegebenen Metonitazen-Probe in Zürich
  • Nationale und internationale Medienberichte
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