Johanna Unternährer fotografiert Sternenkinder

Luzernerin begleitet Babys auf ihrer letzten Reise

Wo wegen Krankheit, Unfall oder Frühgeburt um ein Kind gebangt wird, werden «Herzensbilder»-Fotografinnen gerufen. (Bild: Johanna Unternährer)

Die 33-jährige Johanna Unternährer fotografiert seit sieben Jahren Sternenkinder. Bei ihrer Arbeit stösst sie an ihre emotionale Grenze – verliert aber nie den Fokus.

Eigentlich ist Johanna Unternährer ein richtiges Energiebündel. Zwischen 4 und 5 Uhr ist Tagwache. Sie joggt gerne nach dem Frühstück. Dann geht sie in ihr Studio. In Spitzenzeiten arbeitet Unternährer bis zu 80 Stunden in der Woche. Weil sie ihren Job liebt, wie sie selbst sagt.

An diesem Tag steht Johanna Unternährer vor dem Luzerner Kantonsspital. In ihrem Gepäck: die Fotoausrüstung. Ihre Bewegungen werden langsamer, als sie an diesem regnerischen Tag die Treppen im Luzerner Kantonsspital hinaufschreitet. Dann geht sie in ein Zimmer. Richtet das Kleidchen des kleinen Wesens vor ihr und legt ihm kurz die Hand auf den Kopf. Dann sagt sie: «Jetzt machen wir noch ein paar schöne Bilder.» Es ist einer dieser seltenen Momente, die auch der 33-jährigen Fotografin den Atem rauben. Sie atmet tief durch. Und fokussiert sich dann auf ihre Aufgabe: schöne Bilder machen.

Vor ihr liegt Amelie. Sie ist kurz nach der Geburt verstorben – in der 38. Schwangerschaftswoche. Amelie ist ein sogenanntes Sternenkind. So werden Babys genannt, die noch während der Schwangerschaft im Mutterleib verstorben sind oder kurz nach der Geburt ihre erste und gleichzeitig letzte Reise antreten. 

Eine zweite Chance gibt es selten

Seit sieben Jahren fotografiert die Luzernerin ehrenamtlich Sternenkinder. Sie tut es mit viel Fingerspitzengefühl, Empathie und behält trotzdem immer einen fokussierten Blick. Anders könnte sie die Arbeit als Herzensbild-Fotografin nicht ausüben. «Herzensbilder», so wird die Organisation genannt, die für Familien, in denen ein Kind zu früh oder still verstorben oder auch ein Elternteil erkrankt ist, Fotoshootings organisieren. Bis heute werden immer wieder Fotografinnen für diese Aufgabe gesucht.

Johanna Unternährer hat sich 2011 selbständig gemacht. (Bild: zvg)

Anders als bei ihrer gewöhnlichen Arbeit erhält Unternährer nach einem Sternenkind-Fotoshooting nur in seltenen Fällen eine Rückmeldung. Das macht die Arbeit enorm anspruchsvoll. Gleichzeitig wisse sie aber auch, dass das einer der emotionalsten Momente ist, den sie einfangen muss.

Oft hat sie nicht die Chance, eine zweite Aufnahme zu machen. Das hängt einerseits mit den kleinen und volatilen Geschöpfen zusammen. Und andererseits auch mit der Energie der Eltern. «Als Perfektionistin musste ich auch schon einsehen, dass nach zehn Minuten Schluss ist.» Trotzdem möchte sie dann ein paar gute Bilder gemacht haben. Auch wenn sich diese viele der Eltern nie ansehen werden – oder erst Jahre später.

Die damalige Arbeit als Model hilft ihr heute als Fotografin

Ihr Weg zur Fotografin folgte weder einem stringenten Plan noch einem bestimmten Muster. Im Gegenteil. Im Jahr 2011 hat sie sich selbständig gemacht. Bis sich Johanna Unternährer finanziell selbst über Wasser halten konnte, arbeitete sie in einer Versicherungsfirma und bei einem Fotografen. Seit 2015 arbeitet sie in einem Vollpensum. Heute hat sie mehrere Mitarbeitende. Die ersten Erfahrungen macht Unternährer vor der Kamera – als Model.

«Ich versuche die Eltern auf eine Reise mitzunehmen und sie zu ermutigen, eine Verbindung mit diesem kleinen Geschöpf aufzubauen; es vielleicht sogar in die Hände zu nehmen.»

Johanna Unternährer, Fotografin

«Ich war bei über 200 Fotoshootings dabei. Dort erhielt ich Einblicke, was es auch hinter der Kamera alles braucht und vor allem wie die Fotografen mit den Models arbeiten.» So entstand auch ihre Faszination, einmal als Fotografin zu arbeiten. Die Ausbildung zur Visagistin hat sie ebenfalls in dieser Zeit gemacht. Heute hilft das der 33-Jährigen vor allem, wenn sie ihre Kunden vor der Kamera ins richtige Licht rücken muss. Und es hilft eben auch den Eltern, über ihren Schatten zu springen, wenn sie ein Foto mit ihrem Sternenkind machen möchten.

«Ich versuche die Eltern auf eine Reise mitzunehmen und sie zu ermutigen, eine Verbindung mit diesem kleinen Geschöpf aufzubauen; es vielleicht sogar in die Hände zu nehmen.» Dadurch schenke sie den Eltern eine Millisekunde Realität. An ihre Grenzen stösst Unternährer, wenn sie wisse, dass für ein krankes Kind noch ein Funken Hoffnung besteht.

«Oft werde ich erst dann geholt, wenn auch diese letzte Hoffnung gewichen ist.» Oder klar ist, dass die Therapie abgebrochen werden muss. Dann mache sie die Bilder ohne Dutzende Schläuche. Hat Unternährer den Raum verlassen, tritt meist auch das Sternenkind seine letzte Reise an. Das wissen auch die Eltern. Trotzdem ist die Arbeit als Herzensbild-Fotografin für Unternährer eine Herzensangelegenheit. Die sprichwörtlich bis unter die Haut geht.

Das Herzensbild-Logo ist auf den Knöchel tätowiert

Auf ihrem rechten Knöchel erinnert das Herzensbild-Logo, das sie sich auf den Knöchel tätowieren liess, an die Aufgabe von Unternährer: den Eltern und Geschwistern das wohl emotionalste Bild überhaupt zu schenken. Während die Eltern bei den Fotoshootings oft überfordert sind, übernimmt die Luzernerin auch das Denken. Den Fokus richtet sie dabei gezielt auf das Licht und den Schatten, um dadurch ein möglichst schönes Abschlussbild zu machen. Zu viel zu denken, sei in diesem Moment die falsche Vorgehensweise.

In der Regel fotografiert sie die Kinder mit beiden Elternteilen einzeln und gemeinsam. Das hat seine Gründe. «Statistisch gesehen trennen sich viele Paare nach einem solchen Schicksalsschlag.» Dann haben beide ein letztes Andenken.

Auch Ende Mai war die Fotografin wieder im Einsatz. Sie besuchte ein Paar im Spital. Die Frau trug ein Sommerkleid. Unternährer bürstete ihr die Haare. Es ist das zweite Sternenkind, welches das Paar verloren hat. Es sagte zu Unternährer: «Wir wollten doch einfach nur ein Kind haben.»

Es sind solche Momente, die auch Unternährer für einen kurzen Augenblick weiche Knie bescheren. Doch dann ist er wieder da. Dieser unglaubliche Fokus. Denn obwohl sie den Eltern ihr Kind nicht zurückgeben kann, einen Moment der Normalität kann sie ihnen trotzdem schenken. Und das Gefühl, für einen kurzen Moment eine Familie gewesen zu sein.

Verwendete Quellen
0 Kommentare
Apple Store IconGoogle Play Store Icon