Auf Schulbesuch in einer Luzerner Privatschule

Lieber privat als beim Staat: Die Zahl der alternativen Schulen steigt

Die Kompass Schule besuchen ab kommendem Schuljahr 22 Kindergarten- und Primarschulkinder. (Bild: esa)

Privatschulen erfreuen sich steigender Beliebtheit. Die Kompass Schule im ehemaligen Hotel Pilatus in Horw führt inzwischen gar eine Warteliste. Noten gibt es dort keine. Der Kanton verfolgt die pädagogischen Ansätze genau. Denn: Noch so manches, was früher als alternativer Humbug galt, ist heute eine Selbstverständlichkeit.

«Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht», besagt ein afrikanisches Sprichwort – oder auch: «Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen». Es sind beliebte Leitsätze in pädagogischen Debatten und sie werfen die Frage auf: Wie sieht «richtige» Erziehung überhaupt aus und inwiefern macht es Sinn, wenn man Kinder erzieht?

Weil sich der Anteil Privatschulen in der Schweiz seit dem Jahr 2000 mehr als verdoppelt hat, fragte Sandra Felder-Estermann (FDP) im Luzerner Stadtparlament kürzlich: «Sind Privatschulen auch in Luzern im Trend?» Laut Antwort wächst die Anzahl privat geschulter Kinder in der Stadt seit 2016. Bis zum Schuljahr 2017/2018 waren es insgesamt 14 Privatschulen im ganzen Kanton.

Noch nicht mitgezählt ist die Kompass Schule. Diesen Sommer beendet sie ihr erstes Schuljahr und die Belegung hat sich bereits verdoppelt. Ihr Konzept des «selbst-motivierten Lernens» im Erdgeschoss des ehemaligen Hotel Pilatus im Horwer Zentrum stösst auf so viel Interesse, dass ein Aufnahmestopp ausgerufen und eine Warteliste eingeführt wurde. 

Spielen als Synonym für Lernen

Noten hätten nur geringe Aussagekraft, findet Livia Schwander. «Ob die Lerninhalte tatsächlich verstanden wurden, zeigt sich erst im alltäglichen Leben.» In der Kompass Schule werden Fähigkeiten in einem Kompetenzraster eingetragen. Dafür brauche es keine Prüfungen und den Kindern Leistungsdruck zu nehmen, sei sehr wertvoll, «weil man so die Lernfreude erhält». Schwander ist zusammen mit Sibylle Renggli und Corinne Christen Mitbegründerin, Schulleiterin und Lernbegleiterin der Kompass Schule. Zum Start besuchten elf Kinder die Schule. Vier kamen im Verlauf des ersten Jahres dazu und ins kommende Semester starten 22 Kinder im Alter zwischen fünf bis zwölf Jahren.

«Für Kinder, die von der Volksschule zu uns wechselten, ist es anspruchsvoller, wieder selbstgesteuert zu lernen.»

Livia Schwander, Schulleiterin

Die Kompass Schule will sich nicht mit der Volksschule vergleichen. Was sie mit ihr verbindet, ist die obligatorische Orientierung am Lehrplan. Der sei «unterstützend, weil seine Kompetenzorientierung unserer Art zu lernen sehr entgegenkommt». In der Kompass Schule ist das Synonym für lernen: spielen. «Im Spiel bin ich konzentriert, fokussiert, intrinsisch motiviert und habe Freude dabei», erklärt Schwander. Wenn dazu noch Zeit vorhanden sei, «richtig einzutauchen», bleibe das Gelernte hängen. Das Kind soll sich in einer familiären Atmosphäre im Moment und anhand seines Wesens im Spiel entfalten und nach seiner Reifeentwicklung lernen. Die kantonale Dienststelle Volksschulbildung prüft die Schule jedes Jahr, schaut sich den Unterricht an und führt Gespräche mit den Beteiligten.

Die Kompass Schule kennt keine nach Alter getrennte Klassen. (Bild: zvg)

Vertrauen ins Leben

In der Kompass Schule geben die Kinder vor, wo ihre individuelle Lern-Reise hinführt. Die Lernbegleiterinnen geben dafür Raum und klären Bedürfnisse ab. Geduld und Vertrauen seien dabei essenziell und auch für die Eltern eine Herausforderung. Die Versuchung, zu schnell zu viel zu wollen, sei gross. «Für Kinder, die von der Volksschule zu uns wechselten, ist es anspruchsvoller, wieder selbstgesteuert zu lernen.» Die Jüngeren seien viel aktiver und offener gegenüber Neuem. Die Älteren bräuchten diesbezüglich mehr Begleitung. «Es gab Kinder, die nicht mehr lesen wollten, weil es ihnen keine Freude mehr bereitete – und jetzt lesen sie den Jüngeren vor», erzählt Schwander. «Kinder können einander inspirieren.»

Es sei «ein riesiges Geknorze, Kindern etwas beibringen zu wollen, wenn sie noch nicht bereit dafür sind», sagt Schwander. In der Kompass Schule lernten die Kinder, eigene Bedürfnisse in Worte zu fassen und aufeinander einzugehen. Dadurch reife die emotionale Entwicklung – auch bei den Erwachsenen. «Wir sind mit ihnen im echten Leben unterwegs», erzählt Schwander. So gingen sie beispielsweise für ein Projekt zur Alteisensammlung oder riefen den Tierarzt an wegen eines verletzten Vogels. Durch den Wegfall der klassischen Fächertrennung werde alles vernetzt. «Hier ist man viel ausdauernder, weil es keine zeitlichen Grenzen gibt.» Es sei ein Vorteil, dass nicht immer wieder eine Klingel das Lernen unterbricht. Das Kind merke selbst, wenn etwas abgeschlossen ist, «und dann wird aufgeräumt». 

Ein Herzensprojekt

Alternativen Schulen haftet das Stigma an, Kinder nicht «für das wahre Leben» vorzubereiten. Diese Kritik versteht Livia Schwander nicht, zumal die Kompass Schule kein «laissez faire» betreibe. «Wir sind überzeugt davon, dass auch in Zukunft zuverlässige, selbstständige, motivierte, zielorientierte und kompetente junge Menschen gebraucht werden, die mit Freude anpacken, Verantwortung übernehmen und neugierig und aktiv dabei sind.» In der Kompass Schule werde das tagtäglich gelebt. «Wir wollen jenen Familien einen Lernort bieten, welche ihre Kinder möglichst selbstverantwortlich lernen lassen möchten», erklärt Schwander.

Um Familien für die gesamte obligatorische Schulzeit einen selbstverantwortlichen Lernort zu bieten, soll in Zukunft eine Sekundarstufe dazukommen. Bisher hat noch keines der Kompass-Schulkinder, die aus dem ganzen Kanton und Umgebung stammen, die Primarschulzeit abgeschlossen.

Auch Fächer werden nicht getrennt, sondern miteinander vernetzt. (Bild: zvg)

An der Volksschule des Kantons Luzern kostet ein Primarschulkind eine Gemeinde jährlich rund 15'000 Franken. An der Kompass Schule zahlen die Eltern für die Primarschule 12'000 Franken pro Kind und Jahr. «Uns ist es ein grosses Anliegen, dass sich Familien, die unsere Philosophie mittragen, die Schule auch leisten können.» Deswegen sei das Schulgeld so tief wie möglich gehalten. «Die Familien leisten einiges, damit sie ihre Kinder hierherschicken können», erzählt Schwander. Es gebe Eltern mit extra Zweit-Jobs.

Die Lernbegleiterinnen, alle mit pädagogischer Ausbildung und jahrzehntelanger Erfahrung, arbeiteten seit der Gründung «fast gratis». Es sei das Ziel, lebenstragende Löhne zu zahlen, aber noch ist die Kompass Schule auch diesbezüglich «ein Herzensprojekt», wie Schwander sagt. In Luzern erhalten Privatschulen keine kantonalen Beiträge, und nur die wenigsten Gemeinden können oder wollen es sich leisten, ihre lokale Privatschule zu unterstützen. «Es ist schade», bedauert Schwander, «dass durch die politische Lage Familien aus finanziellen Gründen ausgeschlossen werden müssen.»

Ohne Not

Es gibt Luzerner Gemeinden, die neuere Lernkonzepte anwenden. In der «Basisstufe» oder in «Lernateliers» der Sekundarschule gibt es Altersdurchmischungen und Formen des selbstorganisierten Lernens. Die Gemeinde Rothenburg zum Beispiel achtete bei ihrem Schulhausneubau darauf, dass die Räume für Lerngruppen angepasst sind – statt nur für klassischen Frontalunterricht. Laut Charles Vincent, Dienststellenleiter Volksschulbildung im Kanton Luzern, habe eine Evaluation ergeben, dass Kinder aus der Basisstufe im Vergleich zum konventionellen Kindergarten vor allem bei sozialen Kompetenzen weiter seien.

«Um die Selektion durch Noten abzuschaffen, bräuchte es politischen Willen.»

Charles Vincent, Dienststelle Volksschulbildung

Doch von wirklich freiem Lernen sind Schweizer Volksschulen weit entfernt. «Um zum Beispiel die Selektion durch Noten abzuschaffen, bräuchte es politischen Willen», sagt Vincent. Es habe in Luzern auch schon Versuche gegeben, über die gesamte Primar auf Noten zu verzichten. Aufgrund eines politischen Vorstosses im Kantonsrat wurde dies wieder abgeschafft und seitdem gibt es ab der 3. Primarstufe eine Notenpflicht.

Die Kompass Schule mietet ihre Räume im ehemaligen Hotel Pilatus mitten in Horw. (Bild: esa)

«Noten im Rahmen der integrativen Förderung oder Kompetenzorientierung, das sind Spannungsfelder, die nicht so einfach aufgelöst werden können», erklärt Vincent. Gleichzeitig erinnert er daran, dass viele Forderungen an die Didaktik der Volksschule in den 1980er-Jahren, die damals noch als progressiv galten, mittlerweile Standard sind – unter anderem dank Privatschulen, welche solche Konzepte erprobten. Während die Privatschulquote schweizweit bei rund 4,6 Prozent liegt, ist sie im Kanton Luzern mit 1,5 Prozent vergleichsweise tief.

Vincent nimmt es als Zeichen dafür, dass die Leute insgesamt recht zufrieden mit der Luzerner Volksschule seien, auch wenn er eingesteht, dass es wahrscheinlich einige weitere Familien gäbe, die an eine alternative Privatschule gingen, wenn sie könnten. Die Zahlen geben jedenfalls weder Kanton noch Stadt Anlass dazu, Privatschulen als grosse Konkurrenz zu betrachten. 

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