«Breaking the Silence» in Luzern

«Israel zu kritisieren, gilt als Verrat»

Shay Davidovich, der am Mittwoch in Luzern leidenschaftlich gegen die israelische Besatzung votierte, erklärt die Lage in Hebron. (Bild: springtimeinpalestineandisreal.wordpress.com)

Ein israelischer Soldat, der die Besatzung der palästinensischen Gebiete öffentlich kritisiert: Das Thema stiess am Mittwoch in Luzern auf viel Interesse und Emotionen, aber auch kritische Voten. Und wurde durch die Rahmenbedingungen zusätzlich erschwert.

«Mein erster Auftrag als Soldat lautete: Jage diesen nackten Knaben, der sich einer Siedlung zu nahe angenähert hat. Und dies mit geladenem Gewehr.» Die Empörung über seinen ersten richtigen Militäreinsatz war Shay Davidovich bei seinen Erzählungen im Luzerner Romero-Haus deutlich anzumerken, auch 10 Jahre danach. Inzwischen 28-jährig, ist er einer jener, der der israelischen Nichtregierungsorganisation «Breaking the Silence» ein Gesicht gibt. Die Mehrheit der über 1’000 Armeeangehörigen unterschiedlicher Dienstgrade äussert ihre Kritik an der Besatzung Palästinas anonym. Zu gross ist die Angst vor Repressalien.

Schweigen in der Gesellschaft

«Einen Regierungsjob werde ich wohl nicht mehr erhalten», sagte Davidovich auf eine entsprechende Frage, verwies aber gleichzeitig auch auf die in Israel weiterhin geltende Rede- und Meinungsfreiheit. Er selbst fühle sich sicher, doch Freunde und Armeekollegen hätten sich von ihm abgewandt. Das Schlimmste sei aber das Schweigen in der israelischen Gesellschaft. Schweigen über das, was in den palästinensischen Gebieten tagtäglich geschieht. «Israel zu kritisieren, gilt in unserer Gesellschaft als Verrat, auch in meiner Familie. Man spricht nicht darüber und will nichts davon hören.» Eine Schweizer Zuhörerin im Saal, die ebenfalls Familie in Israel hat, nickt bestimmt.

Dass die Umstände bekannter werden, denen die palästinensische Bevölkerung durch die Besatzung tagtäglich ausgesetzt sind, dafür sollte auch Davidovichs Auftritt im Luzerner Romero-Haus dienen. «Die Intifada war beängstigend, wir spürten sehr viel Gewalt. Ich wollte Israel und meine Eltern, die selber als Siedler in Ariel lebten, schützen. Ich dachte, wir seien die Guten.» Seines Schutzes hätte jedoch nicht die israelische Seite bedurft, sondern die Palästinenser, sagt Davidovich. «Auf die Erkenntnis, dass nicht die Palästinenser uns, sondern wir sie angreifen, wurden wir in der Ausbildung nicht vorbereitet.»

Wie moralisch kann eine Armee sein?

Als «sinnlos und verrückt» bezeichnete er seinen Militäreinsatz, was dazu führte, dass er die begonnene Offiziersausbildung abgebrochen hat und in Tel Aviv stattdessen einen Master in Konfliktlösung absolvierte. Hier habe er vor zwei Jahren erstmals vom humanitären Völkerrecht gehört. Jenes Völkerrecht, das auch für Israel durch die Unterzeichnung der Genfer Konventionen gilt – und das nach Meinung von «Breaking the Silence» und Experten regelmässig gebrochen wird.

Ausstellung zu «Breaking the Silence»

«Breaking the Silence» ist eine israelische Nichtregierungsorganisation. Seit 10 Jahren sammelt sie Aussagen von Reservisten zu ihren Kriegseinsätzen im Westjordanland und im Gazastreifen. Shay Davidovich kam im südlichen Hinterland von Hebron, im Jordantal und im Gazastreifen zum Einsatz.

Noch bis am 14. Juni wird in Zürich eine Ausstellung gezeigt (täglich 14.00 bis 20.00 Uhr), siehe Links zum Thema. Das Eidgenössische Aussendepartement (EDA) und die Stadt Zürich unterstützen diese mit 15'000 respektive 10'000 Franken. Der israelische Botschafter Yigal Caspi hat dagegen eine Protestnote deponiert. Die Anweisung kam laut verschiedenen Quellen von der stellvertretenden Aussenministerin Tzipi Hotovely.

«Israel argumentiert gerne damit, über die moralischste Armee zu verfügen. Doch das ist wohl die dümmste Aussage, die man machen kann», urteilt Davidovich. Die Tatsache, dass man seit 1967 über vier Millionen Menschen kontrolliere und einschränke, sei alleine schon unmoralisch. Das Hauptproblem bestehe darin, dass in den besetzten Gebieten kein Gesetz gelte. «Als Armeeangehöriger hatte ich keine Polizeikompetenz und konnte gegen die Übergriffe der Siedler nichts tun. So habe ich dann resigniert.»

Mehr Sicherheit durch Besatzung?

Davidovich bot den anwesenden Kritikern an der Veranstaltung wenig Angriffsfläche. Reflektiert und leidenschaftlich trat er für eine Beendigung der seit 48 Jahren dauernden Besatzung ein, nicht ohne gleichzeitig auch für sein Land Stellung zu beziehen. «Meine Familie lebt seit neun Generationen im Land und hat auch einen religiösen Bezug. Natürlich müssen wir uns schützen, wir leben an einem gewalttätigen Ort.» Es stelle sich jedoch die Frage, ob die Besatzung diese Sicherheit biete. «Ich persönlich glaube das nicht.»

Und die Zukunft? Shay Davidovich zeigt sich skeptisch. «Ich sehe keine Veränderungen in der israelischen Gesellschaft, nur Hass und Gleichgültigkeit.» Die Leute würden sich heute mit dem nächsten Krieg auseinandersetzen, überlegten sich, wie dieser sein werde. «Im letzten Krieg wurden im Gazastreifen 18’000 Häuser dem Erdboden gleichgemacht. Wird es für Israel sicherer, wenn wir das nächste Mal noch mehr Leuten die Wohnungen zerstören?», fragte er. Dennoch: «Irgendwann wird die Besatzung zu Ende zu sein. Ich möchte meinen Beitrag leisten, dass dies so schnell wie möglich sein wird.»

Romero-Haus unter Wasser

Martin Werlen, der frühere Abt des Klosters Einsiedeln, der 2013 selbst während mehrerer Monate in Jerusalem lebte, machte sich an der Veranstaltung für mehr Menschlichkeit stark. Eine Veranstaltung, die nicht nur durch das Thema selbst aussergewöhnlich war. Das Kellergeschoss des Romero-Hauses stand wegen der Unwetter der letzten Tage unter Wasser, so dass das von der Journalistin Marlène Schnieper geführte Gespräch unverstärkt über die Bühne gehen musste.

 

0 Kommentare
Apple Store IconGoogle Play Store Icon