Psychotherapeutin leitet Fachsprechstunde in Luzern

«Ich würde es einem Kind nie absprechen, sich als trans zu fühlen»

Lynn Schwander kennt die Gedanken und Sorgen von trans Jugendlichen und deren Eltern. (Bild: ida)

Lynn Schwander leitet an der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Luzerner Psychiatrie die Fachsprechstunde Geschlechtsidentität. Wie geht sie damit um, wenn ein Kind vor ihr sagt, es sei im falschen Körper? Im Interview stellt sie sich den Fragen.

Wie als Eltern umgehen, wenn ein Bube mit dem Röckchen in den Kindergarten will? Und wie weiter, wenn sich ein Kind nicht dem Geschlecht zugehörig fühlt, das ihm bei der Geburt zugeteilt wurde?

Mit solchen Fragen befasst sich auch die Luzerner Psychiatrie (Lups). Seit gut drei Jahren bietet diese im Ambulatorium der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJPD) in Luzern die Fachsprechstunde Geschlechtsidentität an. Mitaufgebaut hat diese Lynn Schwander. Die Psychotherapeutin ist auch die Leiterin der Fachsprechstunde.

zentralplus: Lynn Schwander, so präsent wie das Thema Transidentität in den Medien ist, könnte man meinen, Sie werden hier überrannt.

Lynn Schwander: Ein gesteigertes Interesse von klinisch Betroffenen verzeichnen wir in der Fachsprechstunde nicht – spüren wohl aber das gesteigerte öffentliche Interesse. Jährlich verzeichnen wir bei der Fachsprechstunde Geschlechtsidentität rund 20 Neuanmeldungen. Diese Zahl ist seit drei Jahren relativ stabil. Im Vergleich zu anderen Themen am KJPD ist es ein Nischenthema. Es ist wichtig, dass wir seit 2021 auch in der Zentralschweiz ein spezialisiertes Angebot für Kinder, Jugendliche und deren Eltern haben.

zentralplus: Wie alt sind die Kinder, die zu Ihnen kommen?

Schwander: Der grösste Teil ist zwischen 15 und 18 Jahren alt. Ab und zu kommen auch Eltern mit ihren Kindern im Kindergartenalter oder sogar Vorkindergartenalter zu uns.

«Als Mädchen ist viel mehr möglich, bei Jungs schrillen schneller die Alarmglocken.»

zentralplus: Was treibt Betroffene zu Ihnen in die Sprechstunde?

Schwander: Insgesamt melden sich Kinder und Jugendliche zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer Geschlechtsidentitätsentwicklung bei uns – und so ist auch der Grund, weshalb sich Familien bei uns melden sehr unterschiedlich. Bei jüngeren Kindern sind es eher deren Eltern, die den Weg zu uns finden. Sie sind verunsichert oder besorgt, weil ihr Kind geschlechts-nonkonformes Verhalten zeigt. Dass also der Junge lieber mit Puppen spielt oder mit dem Kleidchen zum Kindergarten gehen will. Umgekehrt sorgen sich Eltern weniger, wenn ihr Mädchen Fussball spielt oder unter Jungs ist. Als Mädchen ist viel mehr möglich, bei Jungs schrillen schneller die Alarmglocken. Die männliche Rolle ist stärker von prägenden Stereotypen geprägt.

zentralplus: Was raten Sie Eltern?

Schwander: Wir beraten faktenbasiert: Nur weil ein Kind sich nicht geschlechtertypisch verhält, heisst es nicht zwangsläufig, dass es sich nach der Pubertät als trans definiert. Gemäss Studien ist es bei zwei Drittel der Kinder mit geschlechtsvariantem Verhalten effektiv eine Phase. Insbesondere bei jüngeren Kindern ist es wichtig, phasenweise geschlechtsnonkonform wirkendes Verhalten von  einer dauerhaft  manifestierten Geschlechtsinkongruenz zu unterscheiden. Trotzdem ist es wichtig, den Kindern zuzuhören, sie ernstzunehmen und dabei zu unterstützen, sich selbst auszuleben. Das Kind sollte grundsätzlich so gesehen werden, wie es selbst gesehen werden möchte.

zentralplus: Wie sieht es bei Jugendlichen aus?

Schwander: Die Jugendlichen, die in die Fachsprechstunde kommen, beschäftigen sich im Vergleich zu anderen übermässig stark mit dem Thema Geschlechtsidentität. Das wissen sie auch selbst. Und sie haben einen hohen Leidensdruck.

zentralplus: Gemäss Studien sind drei von vier jungen Menschen mit Transidentität ernsthaft suizidal oder verletzen sich selbst. Zeigt sich das demnach auch bei Ihnen?

Schwander: Ja, auf jeden Fall. Jugendliche können diese Gedanken sehr klar formulieren. Wir sehen häufig Jugendliche, bei denen es um existenzielle Fragen geht. Sie sagen dann, dass sie sich ihr Leben in dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, nicht mehr vorstellen können, ihr Leben so nicht mehr lebenswert sei. Diese Gedanken kann man nicht wegstecken, man ist permanent damit konfrontiert. Oft sind diese Jugendlichen bereits in Psychotherapie oder wir ziehen einen Psychotherapeuten hinzu.

Hier bekommst du Hilfe

Mehr Infos über das Thema Geschlechtsidentität und Trans findest du über das Transgender Network Switzerland. Dieses bietet auch regelmässig Austauschtreffen für Angehörige an. Betroffene Jugendliche finden Hilfe über du-bist-du.

Wer sich für eine Fachsprechstunde an der Kinder- und Jugendpsychiatrie interessiert, findet hier mehr Infos.

Wähle die Nummer 143 der «Dargebotenen Hand», wenn es dir nicht gut geht oder du dir Sorgen um jemand anderen machst. Kostenlos und rund um die Uhr hilft dir auch die Nummer 147 (Pro Juventute).

zentralplus: Wie meinen Sie das, dass Jugendliche permanent damit konfrontiert sind?

Schwander: Geschlechtsinkongruenz bedeutet, dass das eigene, innere Erleben als männlich, weiblich oder divers nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt. Ist dies der Fall, können alltägliche Dinge wie sich umzuziehen oder zu duschen extrem herausfordernd werden. Wie auch, immer wieder damit konfrontiert zu werden, dass man nicht so gesehen und angesprochen wird, wie man sich selbst sieht. Das kann Traurigkeit, Wut, Enttäuschung, aber auch Verzweiflung auslösen.

zentralplus: Wie geht es mit diesen Jugendlichen weiter? Gerade, wenn sie mit Suizidgedanken konfrontiert sind? Es ist sicherlich eine Herausforderung. Einerseits sollte man sich Zeit lassen für die Beratung und die Diagnose – andererseits kann es gefährlich für Betroffene werden, wenn man sich zu viel Zeit lässt.

Schwander: Es ist immer ein Abwägen. Einerseits müssen wir die Ängste und Sorgen der Eltern abholen, sie im Boot behalten – und gleichzeitig die Gesamtsituation des Jugendlichen immer wieder evaluieren. Dazu gehört auch, abzuwägen, ob die Situation noch aushaltbar ist für den Jugendlichen und inwiefern man ihn aussetzt, wenn sich nichts ändert. Für viele ist es aber bereits entlastend, zu wissen, dass sie jetzt hier in der Fachsprechstunde sind, gemeinsam mit ihren Eltern. Meistens wird die Situation dann aushaltbarer, als sie zuvor war.

zentralplus: Welche Kriterien helfen Ihnen, um zu entscheiden, ob die Person vor Ihnen trans ist?

Schwander: Es gibt im ICD-11 – einer weltweit gültigen Krankheits-Klassifikation – klare Kriterien, welche erfüllt sein müssen, um die Diagnose überhaupt fachlich stellen zu können. Sie ist definiert als eine ausgeprägte und persistierende, also dauerhafte, Inkongruenz zwischen dem individuell empfundenen Geschlecht einer Person und dem gesellschaftlich zugewiesenen Geschlecht. Zudem ist klar festgelegt, dass es sich dabei um ein subjektives Erleben handelt und nicht vor allem am Verhalten abgelesen werden kann. Daran orientieren wir uns verbindlich.

«Vom Erstgespräch bis zur Diagnose vergeht gut ein halbes Jahr.»

zentralplus: Was heisst das konkret?

Schwander: Wir erkundigen uns genau nach dem inneren Erleben der betroffenen Personen, eruieren auch den zeitlichen Verlauf des inneren Erlebens. Ebenso wichtig ist die Exploration der Eltern, auch in Bezug auf Einschätzungen zur gesamten bisherigen Entwicklung. Eine Diagnosestellung braucht deshalb ausreichend Zeit. Wir halten uns da an einen strukturierten Ablauf, verwenden standardisierte Fragebögen und fremdanamnestische Interviews.

zentralplus: Wie lange dauert es bis zur abschliessenden Diagnose?

Schwander: Vom Erstgespräch bis zur Diagnose vergeht gut ein halbes Jahr. Es finden Gespräche mit den Jugendlichen alleine statt, gemeinsam mit den Eltern und nur mit den Eltern. Von den Jugendlichen verlangen wir einiges ab.

zentralplus: Wie meinen Sie das?

Schwander: Sie müssen sich vielen anspruchsvollen Fragen stellen. Es geht dabei darum, mit den Jugendlichen auf ihre bisherige schwierige Entwicklung zurück zu schauen. Wie lange besteht die Geschlechtsinkongruenz schon, wie stabil ist der Transitionswunsch, wie stark ist der Leidensdruck aktuell? Und wo sehen sie sich in Zukunft, wie stellen sie sich ihre Beziehungen und ihre Sexualität vor? Das sind wichtige Fragen in diesem Prozess.

zentralplus: Wie oft werden Pubertätsblocker verschrieben, Hormonbehandlungen und geschlechtsanpassende Operationen eingeleitet?

Schwander: Die Thematik rund um die Geschlechtsinkongruenz ist sichtbarer geworden in den letzten Jahren, auch wenn sie immer schon da war. Somit ist auch der Zugang zu medizinischen Massnahmen erleichtert worden. Indikationen für Pubertätsblocker sind bei uns in Luzern relativ selten, Indikationen für geschlechtsangleichende Hormonbehandlungen kommen bei Jugendlichen häufiger vor. Bezüglich Operationen kann ich keine Aussage machen, dies betrifft uns in der Kinder- und Jugendpsychiatrie nur in den seltensten Fällen. In der Regel werden Operationen erst nach dem 18. Lebensjahr erfolgen.

«Eltern stehen an einem ganz anderen Punkt. Sie müssen das erstmals aufholen.»

zentralplus: Wie gehen Eltern damit um?

Schwander: Manche Eltern sorgen sich, dass alles zu schnell geht und sich vor und während der Pubertät vieles ändert. In der Pubertät ist eine gewisse Schnelllebigkeit normal. Es ist deshalb wichtig, der Familie Zeit für diesen Prozess zu geben und erst einmal die soziale Transition zu empfehlen, bevor man dann über medizinische Massnahmen diskutiert. Das ist auch unsere Haltung – das beruhigt sie meist schon sehr. Eine wichtige Arbeit von uns ist es zudem, in den Gesprächsstunden den Dialog zwischen den Jugendlichen und ihren Eltern zu ermöglichen.

zentralplus: Inwiefern?

Schwander: Eltern müssen im ganzen Prozess involviert sein, man muss ihnen Zeit geben. Bis sich Jugendliche ihren Eltern anvertraut haben, haben sie sich meist schon selbst intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt und sich informiert. Eltern stehen an einem ganz anderen Punkt. Sie müssen das erstmals aufholen.

zentralplus: Haben Sie es schon erlebt, dass Eltern so gar nicht verstehen können, dass ihr Kind trans ist?

Schwander: Grundsätzlich ist es schon ein Statement, wenn Eltern hier hin in die Fachsprechstunde kommen. Das signalisiert Interesse, sie wollen sich mit der Frage auseinandersetzen und ihr Kind unterstützen. Ich habe es selten erlebt, dass man Eltern und Jugendliche nicht zusammengebracht hat, auch wenn es Geduld braucht. Eher waren sich Eltern und Jugendliche uneins, wenn es um medizinische Geschlechtsanpassungen ging.

zentralplus: Was dann?

Schwander: Zu einer medizinischen Indikation – also Hormonbehandlungen mit Testosteron oder Östrogen oder seltener operativen Eingriffen – kommt es bei uns nur mit dem Einverständnis der Eltern. Das legen wir von Anfang an transparent offen – auch gegenüber den Jugendlichen.

zentralplus: Wie sieht die rechtliche Situation aus?

Schwander: In der Schweiz ist es so, dass Jugendliche ab 16 Jahren grundsätzlich selbst über medizinische Massnahmen bestimmen können. Falls die Eltern nicht einverstanden sind, muss die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) als aussenstehende Behörde über die Urteilsfähigkeit des betroffenen Jugendlichen urteilen. Das habe ich aber – glücklicherweise – noch nie erlebt. Eine solche medizinische Behandlung als Jugendlicher durchzuziehen, mit dem Wissen, dass die Eltern nicht dahinterstehen, stelle ich mir sehr belastend vor. Das würde ich aus fachlicher Sicht keinem Jugendlichen zumuten wollen.

«Manche Eltern erzählen mir, dass ihr Kind sie schon mit drei Jahren gefragt habe, wieso es nicht auch einen Penis habe, wie der Bruder.»

zentralplus: Wie gehen Sie damit um, wenn ein Kind vor Ihnen sitzt, das sagt, trans zu sein?

Schwander: Das eine ist die Diagnose, die wir stellen – das andere, wie sich das Kind selbst definiert. Ich habe ab und zu Kinder vor mir, die sagen, sie sind trans. Manche Eltern erzählen mir, dass ihr Kind sie schon mit drei Jahren gefragt habe, wieso es nicht auch einen Penis habe, wie der Bruder. Die Kinder sind sich in dem Gefühl sehr sicher, deren Eltern auch. Kinder können sehr wohl sehr früh spüren, im falschen Körper zu sein. Oft leben diese Kinder bereits im gewünschten Geschlecht. Ich würde es einem Kind nie absprechen, sich als trans zu fühlen.

«Transidentität und Geschlechtsinkongruenz aber als Social-Media-Hype abzutun, damit tut man vielen Jugendlichen unrecht.»

zentralplus: Das heisst, Eltern sollen ihre Kinder einfach sein lassen?

Schwander: Es kann eine Phase sein – muss es aber nicht. Wenn ein Kind den Wunsch äussert, lieber als Junge statt als Mädchen zu leben, sollte man das Kind dabei unterstützen, sich im gewünschten Geschlecht auszuprobieren und es auszuleben. Nur so kann es Erfahrungen sammeln. Später können wir in der Fachsprechstunde gemeinsam schauen, wie sich dies für das Kind angefühlt an. Hat es sich so angefühlt, wie es sich das vorgestellt hat? Fühlt es sich besser und erleichternd an?

zentralplus: Kritiker sprechen von einer «sozialen Ansteckung» mit dem Transthema, da Jugendliche über Tiktok & Co. Vorher-Nachher-Bilder von Transmenschen sehen und so womöglich Vorbilder finden. Wie stehen Sie dieser Meinung gegenüber?

Schwander: Natürlich informieren sich Jugendliche über soziale Medien – trans Jugendliche genauso wie alle anderen. Sicherlich ist es eine gesellschaftliche Entwicklung, mehr zu hinterfragen, wer man ist und wie man sich fühlt und so auch die Geschlechtsidentität zu hinterfragen. Heute sind viel mehr Variationen als früher möglich. Transidentität und Geschlechtsinkongruenz aber als Social-Media-Hype abzutun, damit tut man vielen Jugendlichen unrecht. Jene, die zu uns kommen, haben einen grossen Leidensdruck bis hin zur Suizidalität. Das sucht sich niemand aus.

Verwendete Quellen
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