Ein Tag in der Gassechuchi – Kontakt- und Anlaufstelle

Cracksüchtig – bis zu 30-mal dem nächsten Steinchen nachrennen

Wird Kokain geraucht, knistert es – deswegen der Name Crack. (Bild: ida)

Crackkonsum breitet sich aus. Auch in Luzern. In der Gassechuchi – Kontakt- und Anlaufstelle rauchen Süchtige pro Tag ein paar Hundert Crackpfeifen. Ein Augenschein vor Ort.

Ein Rauchschleier liegt über den Köpfen. Im Hinterhof des Gebäudes, links ums Eck, herrscht reges Kommen und Gehen. Manch einem steht der Stress ins Gesicht geschrieben. Sie hantieren mit Münz, langen in ihre Hosentaschen, reden wild durcheinander, verhandeln. In ihren Händen halten sie Plastiktütchen. Darin: weisse Steinchen, nur ein paar wenige Millimeter gross, die von Hand zu Hand wandern. Diese verflixten Steine, von denen sie alle nicht mehr loskommen: Crack.

An diesem Donnerstagnachmittag halten sich rund 40 Leute auf dem Hinterhof der Gassechuchi – Kontakt- und Anlaufstelle, kurz K+A, auf. Sie alle sind hier, um sich harte Drogen zu beschaffen und zu konsumieren.

Crack – das Kokain knistert beim Rauchen

Im hinteren Teil des Hofes ist es wesentlich ruhiger. Hier sitzen die Menschen auf Bänken. Die Pfeife in den Händen. Ein Mann ganz rechts setzt sich seine metallene Pfeife an den Mund. Er zieht daran, es dampft, knistert und knackt – er raucht Kokain. Der stechende Geruch von Ammoniak steigt in die Nase, der Mann schliesst die Augen, wippt sanft mit seinem Körper. In Gedanken scheint er weit weg zu sein. Weg von Stress und Hektik. Zumindest für einen Moment. Bis das Verlangen nach dem nächsten Steinchen kommt. Nach dem nächsten Flash.

Hier, in der Institution am Luzerner Geissensteinring, können Süchtige in einem sauberen und geschützten Umfeld Drogen konsumieren. Die Szene ist unter sich. Sie wird nicht gestört. «Jeder kann so sein, wie er oder sie gerade ist. Ohne sich verstellen oder die Drogen verstecken zu müssen», sagt Adrian Klaus. Er leitet die Gassechuchi – K+A seit fünf Jahren. Zugleich können Konsumentinnen unkompliziert medizinisch versorgt werden. Und ihre Alltagssorgen mit Leuten aus der Szene oder Fachleuten besprechen.

2011 wurde die Kontakt- und Anlaufstelle der Gassechuchi eröffnet. (Bild: ewi)

Crackwelle in der Schweiz

Crack hält die ganze Schweiz in Atem. In Genf ist die Zahl der Crackkonsumentinnen sprunghaft angestiegen. Die Medien sprechen von einem «Crack-Hotspot». Zeitenweise bildeten sich in anderen Schweizer Städten wie Zürich oder Chur offene Szenen (zentralplus berichtete).

In Luzern ist die Situation nicht ganz so verheerend, doch auch hier hat sich die Lage aus Sicht der Stadt und des Kantons verschärft. Sie ergriffen Massnahmen – unter anderem hat die Gassechuchi – K+A seit Juli abends eine Stunde länger offen, ab September zwei Stunden (zentralplus berichtete). Letztlich wirkt die Gassechuchi – K+A auch einer offenen Drogenszene entgegen.

«Vor etwa 15 Jahren begann ich dann mit dem ‹Basen› – seither bin ich nicht mehr davon losgekommen.»

Ein Besucher in der Gassechuchi – K+A

In der Gassechuchi hängt ein grosser Kronleuchter, in der Küche scheppert das Geschirr. Hier können armuts- und suchtbetroffene Menschen für fünf Franken eine Mahlzeit zu sich nehmen. Heute auf der Menüliste: Hörnli-, Reis- und grüner Salat mit Poulet. Die Mittagszeit ist vorbei, nur noch eine Frau sitzt am Tisch, vor ihr ein voller Teller. Immer wieder steht sie auf, spricht mit Leuten im Raum, die am Töggelikasten spielen, setzt sich wieder, isst ein paar Bissen, steht wieder auf, geht zu den anderen, setzt sich wieder. Allzu grossen Hunger scheint sie nicht zu haben. Beziehungsweise: Sie scheint ihn nicht zu spüren.

Von der Droge kommen viele nicht mehr los

Ein 47-Jähriger steht auf der Terrasse, die Zigarette in seiner Hand ist schon lange erlischt. Er erzählt, wie er mit 16 Jahren zum ersten Mal einen Joint in seinen Händen hielt. Mit 17 Jahren begann es mit dem Rauchen von «Sugar» – Heroin, Folienrauchen. «Vor etwa 15 Jahren habe ich das erste Mal Kokain geraucht – seither bin ich nicht mehr vom ‹Basen› losgekommen.»

«Basen», damit ist in der Szene das Rauchen von Kokain gemeint. Die Droge wird mit Natriumbicarbonat aufgekocht, dann entsteht Crack. Wird sie mit Ammoniak aufgekocht, entsteht Freebase.

«Bei Crack gibt es kein Sättigungsgefühl.»

Adrian Klaus, Betriebsleiter der Gassechuchi – K+A

Nicht mehr loskommen von Crack – vielen hier geht es gleich wie dem 47-Jährigen. Die Droge kann schnell süchtig machen. Manche Konsumentinnen beschreiben es als einen «Schnellzug», Crack gelangt blitzschnell ins Gehirn und putscht auf. So intensiv der Flash, so abrupt ist der Absturz. Der Flash hält vielleicht 5 bis 15 Minuten an. So kann das Verlangen nach einem erneuten Flash kommen. Es gibt Konsumenten, die immer wieder nachlegen, sie konsumieren tagelang. Sie vergessen zu schlafen, fühlen weder Hunger noch Durst.

Die meisten hier rauchen Crack

Der Betriebsleiter der Gassechuchi – K+A erklärt, dass dies bei Opioiden anders sei. Bei Heroin, das aus Schlafmohn gewonnen wird, stelle sich ein Sättigungsgefühl ein. «Bei Crack gibt es dieses Sättigungsgefühl nicht», sagt Adrian Klaus.

Crack wird in Luzern zwar schon seit rund 15 Jahren konsumiert. Doch der jüngst zunehmende Crackkonsum hat auch den Alltag des Teams rund um Adrian Klaus verändert. «Noch vor einigen Jahren haben wir Heroinsüchtige durch den Flash begleitet, darauf geachtet, dass sie nicht ganz abtauchen. In der Zeit, in denen sie von der Droge gesättigt waren, versuchten wir sie zu animieren.»

Sie musizierten in der Gassechuchi – K+A miteinander, malten oder machten gemeinsam Sport. «Heute, wo die Mehrheit intensiv Kokain raucht, ist das anders», sagt Klaus. Und dazu gehört der grösste Teil aller Besuchenden. Vergangenes Jahr haben sich 546 Menschen für einen Besuch in der Gassechuchi – K+A registriert. Gemäss Klaus rauchen 80 bis 95 Prozent aller Kokain.

Hat für die Besuchenden stets ein offenes Ohr: Adrian Klaus ist seit fünf Jahren Betriebsleiter der Gassechuchi – K+A. (Bild: ida)

«Heute geht es in unserer Arbeit mehr darum, die Leute aus dieser massiv beschleunigten Konsumdynamik herauszuholen, die sich stark darauf reduziert hat, dem nächsten Flash nachzurennen.» Sei das, damit die Süchtigen ein wenig Wasser trinken und etwas essen. Oder sich ein paar Stunden ausruhen und schlafen legen.

So gibt es seit einigen Wochen im oberen Teil der Gassechuchi – K+A ein Sofa und vier Betten, in denen auch an diesem heissen Donnerstagnachmittag vier Menschen dösen, die Schuhe haben sie davor deponiert.

Der Zerfall ist sichtbar

Die Folgen des intensiven Crackkonsums: «Konsumierende sind sehr schwer zu greifen. Es ist schier unmöglich, sie aus dieser Endlosschleife, diesem Hamsterrad herauszuholen und sie auf andere Gedanken zu bringen.» Dass sie sich etwa mit Fragen rund ums Wohnen auseinandersetzen. Viele würden sich nämlich von Bett zu Bett hangeln, ohne ein eigenes, festes Dach über dem Kopf zu haben.

«Man muss heute mehr aushalten als früher. Man sieht den Zerfall – wenn vielleicht auch nur den temporären – der Süchtigen sehr viel schneller.»

Adrian Klaus

Der Crackkonsum geht auch den Mitarbeitenden der Gassechuchi – K+A nahe. Sie alle hätten eine akzeptierende Haltung, sagt Klaus. Schliesslich sind sie in der Schadensminderung tätig. «Aber man muss heute mehr aushalten als früher. Man sieht den Zerfall – wenn vielleicht auch nur den temporären – der Süchtigen sehr viel schneller. Wenn jemand ein paar Tage lang durch konsumiert hat, sieht man das ihm sofort an.»

Szene ist hektischer – und kann gereizt reagieren

Auch könne die Stimmung schnell kippen. Etwa dann, wenn zu viel Drogen und genug Geld da sei. Und die Menschen sehr viel konsumieren. Oder aber, wenn die Cracksteinchen in diesem Moment im Hinterhof knapp seien. Kokain sei eigentlich in Luzern im Überfluss vorhanden, so Klaus. Böten jedoch nur wenige Stoff an, könnten Süchtige schnell gereizt reagieren. Umso mehr, wenn der Körper ausgelaugt sei.

Leute könnten «bschissen», anderen die Steinchen aus den Händen reissen. Recht schnell könne es dann laut werden oder die Gefahr drohen, dass sich Besucher physisch in die Haare kriegen. «Wir müssen sehr präsent sein, deeskalieren und schauen, dass es gar nicht erst so weit kommt», so Klaus. Durch den Crackkonsum könne es auch bei jenen, die eine Veranlagung dazu hätten, psychotische Schübe auslösen. Dass jemand Dämonen sehe, sich verfolgt fühle. Das sei schnell herausfordernd, gerade wenn zwei zeitgleich einen psychotischen Schub hätten.

Im ersten Stock des Gebäudes am Geissensteinring ist eine Coiffeuse. Immer wieder ist sie im Haus und schneidet für fünf Stutz die Haare der Besucher. Eine Frau mit langen aschblonden bis grauen Haaren sitzt auf dem Stuhl vor ihr und lässt sich die Haare föhnen. Ihre Augen hat sie geschlossen. Nur ein paar Minuten später werden wir die Frau sehen, wie sie sich an der Wand von einem Spender ein Stück Alufolie abreissen wird und die Tür zum einen der beiden Konsumräumen öffnet. Wer diese nutzen will, muss sich beim Eingang registrieren.

Nur wenige spritzen sich Drogen – die meisten rauchen sie

Die Kontakt- und Anlaufstelle wurde 2011 in der bereits bestehenden Gassechuchi eröffnet. Seither gibt es zwei Konsumräume. In einem stehen sechs intravenöse Plätze zur Verfügung. An diesem Donnerstagnachmittag ist nach 14 Uhr nur ein Mann im Raum, der eine Spritze aufzieht. Im zweiten Raum gibt es zwölf inhalative Plätze, wo das Kokain geraucht wird.

Blick in einen Konsumraum. (Archivbild) (Bild: ida)

Ebenfalls im ersten Stock ist ein Raum, in dem sich Besucherinnen duschen oder mit frischer Kleidung eindecken können. Und ein Raum, in dem sie medizinisch versorgt werden.

Während sich in den Konsumräumen und im Hinterhof alles nur um Drogen dreht, ist es in der Gassechuchi und auf der Terrasse anders. Hier ist es – wie auch auf den WCs – strikt untersagt, Drogen zu konsumieren. Dass diese für die meisten Menschen in diesen Räumen zum Alltag gehören, realisiert man erst, wenn man sie direkt darauf anspricht. Denn «drauf» sehen hier die wenigsten aus. Ausser sie haben zu viel konsumiert. Oder dann, wenn sie Entzugserscheinungen spüren.

Alltagssorgen

Sorgen haben sie alle. Die Drogen scheinen es für sie nicht zu sein, helfen sie manchen hier, alles rundum zu vergessen. Sie haben Knatsch mit der Bank. Geldsorgen. Probleme mit der Kesb, mit der Vormundschaft. Sie vermissen eine alte Liebe, haben Alltagssorgen. Und doch sagt Lukas*, der mit Jonas* gemeinsam an einem der Tische auf der Terrasse sitzt, Zigaretten raucht und Aprikosen isst: «Wenn alle bei sich zu Hause eine Marihuana-, eine Opium- und Kokapflanze bei sich hätten, würde es vielen wohl besser gehen.» Nur, solange nichts synthetisch verarbeitet sei, ist er überzeugt.

Er erzählt, dass er ein ganzes Jahr clean gewesen sei. «Heute bin ich zum ersten Mal wieder in die Gassechuchi – K+A gekommen. Ich habe Crack geraucht.» Er habe es einfach gebraucht. Ein Jahr lang habe er sich zusammengerissen, doch die Probleme wären geblieben, also hätte er wieder zu Drogen gegriffen.

«So etwas darf man nicht bereuen.»

Ein Besucher in der Gassechuchi – K+A

Süchtige kommen von Drogen los, führen einige Jahre ein mehr oder weniger stabiles Leben, vielleicht werden sie substituiert – und nun rauchen sie wieder Kokain: Dieses Phänomen kennt Klaus. «In den vergangenen zwei, drei Jahren hatten wir vermehrt Neu- beziehungsweise Wiederaufnahmen von Leuten, die 10, manchmal 15 Jahre nicht mehr in der Szene verkehrten.» Es gehe dann relativ schnell, bis diese Menschen in die Institution am Geissensteinring kämen.

Drogen probieren – und dann nicht mehr ohne können

Jonas erzählt, dass auch er einige Jahre ohne Drogen gelebt habe. In Österreich. «Da hättest du ja eh nichts gekriegt», sagt Lukas und lacht. Jonas lacht ebenfalls. Doch kaum sei er über die Grenze, zurück in die Schweiz, gefahren, da habe er gesagt, dass er sich mal wieder zwei, drei Briefchen «Braunes» – Heroin – besorgen wolle.

Dass der gepflegte Mann mit lockigem Haar, Dreitagebart und Schiebermütze inzwischen regelmässig Kokain und ab und zu Heroin raucht – wer würde es ihm ansehen? «Wenn ich rasiert wäre, sähe ich noch solider aus», sagt er schmunzelnd. «Dass ich nicht wie ein typischer Drogenabhängiger aussehe, das sagt man mir oft.» Ausser, man schaue genau hin.

Er zeigt mit dem Finger auf seine Zähne, einige fehlen. 1989 habe er zum ersten Mal Drogen probiert. Aus Neugierde. Beim Probieren blieb es nicht – wie bei den meisten anderen, für welche die Gassechuchi – K+A ein Zuhause ist. Seit 35 Jahren konsumiere er Kokain, seit sechs Jahren rauche er es. Etwa gleich lang sei er in einem Substitutionsprogramm, wegen des Heroins. Ob er es bereut, nach den drogenfreien Jahren wieder Drogen zu nehmen? «Nein», sagt Jonas. «So etwas darf man nicht bereuen.»

Bis zu 30 Cracksteinchen am Tag

Wie viele Crackpfeifen hier am Geissensteinring geraucht werden, kann Klaus nicht beziffern. «Pro Tag dürften es ein paar Hundert sein, wenn man jedes Mal Pfeifeansetzen dazuzählt.» Pro Tag besuchen 100 bis 130 Leute die Gassechuchi – K+A. Im Schnitt würden pro Tag etwa 35 Spritzen aufgezogen, dies variiere jedoch. Im Raucherraum zählen sie täglich 170 bis 180 Konsumationen.

So sehen Cracksteine aus. Sie sind nur wenige Millimeter gross – und kosten je nach Grösse nicht mal zehn Franken das Stück. (Bild: ida)

An einer Pinnwand in der Essküche hängt ein Ausdruck. Er zeigt das Bild eines Mannes, der mit nur 40 Jahren verstorben ist. Mit einem Kugelschreiber hat jemand draufgeschrieben: «Hesch kei Flügeli gha und wo isch din Schutzengel gsi?»

Es ist das Bild des Mannes, der von Polizisten hätte kontrolliert werden sollen. Wegen «Verdachts auf ein Betäubungsmitteldelikt». Der Mann wollte nicht kontrolliert werden, sprang in die stark strömende Reuss (zentralplus berichtete). Nach mehreren Stunden hat die Polizei die Suche eingestellt. Acht Tage später haben Bootsfahrer im aargauischen Mellingen seine Leiche gefunden. Hier, in der Gassechuchi – K+A, hat er einen Namen, ein Gesicht, man gedenkt ihm. «Und fragt sich: War das nötig?», wie ein Mann vom Töggelikasten her anmerkt.

Der Hauch von frischem Shampoo liegt in der Luft, ein Mann mit Turnbeutel bleibt stehen, die Zigarette hat er oberhalb seines Ohrs platziert. Er selbst wirkt gelassen. Aber ja, durch das Basen sei viel kaputtgegangen, erzählt er. Die Szene sei hektischer, Menschen stürben. Er selbst nehme seit 30 Jahren Drogen, seit 15 Jahren regelmässig. Täglich. «Bis zu 30 Cracksteinchen am Tag können es schon sein», sagt er. «Der Flash hält ja nur ein paar Sekunden.» Sagts, verabschiedet sich und läuft in Richtung Hinterhof.

* Namen geändert.

Verwendete Quellen
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