Hat der Kanton geschlafen?

Bern fordert barrierefreien ÖV per Ende Jahr – Zug packt es nicht

Personen mit Einschränkung sollen den öffentlichen Verkehr autonom nutzen können. (Bild: sah)

Ein Bundesgesetz verlangt, dass alle Haltestellen im öffentlichen Verkehr bis zum 1. Januar 2024 barrierefrei ausgebaut werden. Für Ärger sorgt, dass Zug nur knapp die Hälfte seiner Haltekanten angepasst hat. Der Kanton hätte zwanzig Jahre Zeit gehabt.

Zwei Jahrzehnte habe der Kanton gehabt, um seine Haltestellen barrierefrei zu machen. Für «Planung und Umsetzung» wäre genügend Zeit gewesen. «Faktum ist aber, dass der Kanton Zug die Fristen nicht eingehalten hat», sagt Daniel Barmettler. «Wir fragen uns, warum die Baudirektion nicht bereits vor 20 Jahren einen Masterplan erstellt hat?»

Der kantonale Geschäftsleiter von Pro Infirmis spricht von den Anforderungen des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG). Das Bundesgesetz trat am 1. Januar 2004 in Kraft und fordert, dass bis zum 1. Januar 2024 der gesamte öffentliche Verkehr in der Schweiz barrierefrei sein muss. Dass der Kanton die Frist nicht einhalten wird, hat auch die Zuger Politik alarmiert.

Kritische Nachfragen aus der Politik

Bereits im Februar hat der Kantonsrat Patrick Röösli (Mitte) mit einer Interpellation nachgefragt, wann die Regierung plant, alle Haltestellen gemäss den Bundesvorgaben umzubauen.

Nun sind die Antworten der Regierung eingetroffen und zeigen: Nicht einmal die Hälfte aller Haltestellen, für die der Kanton verantwortlich ist, ist barrierefrei. Noch bis mindestens 2030 wird der Kanton bauen müssen, um dem Bundesgesetz Folge zu leisten.

Für Rollstuhlfahrer sind selbst kleine Höhenunterschiede ein Hindernis. (Bild: bic)

Damit ist er nicht alleine. Auch die SBB werden nicht alle Bahnhöfe bis 2024 barrierefrei umgebaut haben. Auf ihrer Website schreiben sie aber, dass ab 2024 drei Viertel aller Kunden autonom reisen können. Per Ende 2023 seien 434 von 764 Bahnhöfen dementsprechend angepasst worden. Also deutlich mehr als die Hälfte.

Knapp die Hälfte der Haltestellen ist barrierefrei

Warum hängt Zug also nach? Insgesamt um 253 Haltekanten muss sich der Kanton kümmern. Die übrigen obliegen der Zuständigkeit der Gemeinden oder der SBB. 45 Prozent davon (oder 114 Stück) waren per Ende August barrierefrei. Bei der Anpassung der Haltestellen habe der Kanton die frequentiertesten Haltekanten priorisiert, erklärt die Regierung. Nun folge der Ausbau der seltener genutzten Haltekanten.

«Ein unkoordinierter Umbau könnte dazu führen, dass auf dem identischen Strassenzug allenfalls innert wenigen Jahren erneut gebaut werden müsste.»

Zuger Regierungsrat

Dazu liefert der Kanton eine Tabelle mit allen Haltestellen in seiner Verantwortung. Darauf ist ersichtlich, dass auch zentrale Haltestellen wie der Kolinplatz und das Salesianum noch nicht behindertenkonform ausgebaut sind. Geplant ist Barrierefreiheit an besagten Haltekanten für 2024 beziehungsweise 2026. Die letzten Bauprojekte in der Tabelle sind auf 2031 datiert.

Andere Faktoren sind gewichtig

Dass der Kanton seine Haltestellen nicht schneller barrierefrei gemacht hat, begründet der Regierungsrat wie folgt: «Ein unkoordinierter Umbau könnte dazu führen, dass auf dem identischen Strassenzug allenfalls innert wenigen Jahren erneut gebaut werden müsste.» Denn beim Umbau müsse er auch Lärmschutz, Strassenraumgestaltung und viele andere Faktoren berücksichtigen.

Ausserdem zeigt die Tabelle der Regierung, dass bei elf Haltestellen gar kein Umbau vorgesehen ist, weil für besagte Haltestellen in «absehbarer Zeit» die Gemeinden zuständig werden.

Die Tabelle zeigt, ob die einzelnen Haltestellen bereits barrierefrei sind. (Bild: Kanton Zug)

Grundsätzlich stellt sich der Regierungsrat aber ein gutes Zeugnis aus. «Im Kanton Zug kann heute bis auf vereinzelte Ausnahmen der Ein- und Ausstieg mithilfe des Fahrpersonals über eine Rampe sichergestellt werden.»

Barrierefreiheit ist mehr als Haltekantenhöhe

Doch wie Daniel Barmettler von Pro Infirmis erklärt, beschränke sich Barrierefreiheit nicht auf Perron- und Haltekantenhöhen. Auch die Zugangswege von Haltepunkt zu Haltepunkt müssten barrierefrei werden. Ebenso brauche es taktile Leitlinien – nicht nur auf dem Bahnhofsareal, sondern auch zu umliegenden Objekten.

Wie nötig das ist, zeigt der aktuelle Inklusionsindex von Pro Infirmis. Dafür hat die Organisation 1433 beeinträchtige Personen im Alter zwischen 16 und 64 Jahren in der gesamten Schweiz befragen lassen. Das Ergebnis: Jede dritte Person mit Behinderungen fühlt sich in ihrer Fortbewegung eingeschränkt. Nicht wegen ihres Rollstuhls, sondern wegen baulicher Barrieren.

Verwendete Quellen
  • Geschäftsunterlagen zur Interpellation von Patrick Röösli und Antwort des Regierungsrats
  • Inklusionsindex von Pro Infirmis
  • Website des Bundesamts für Verkehr zur Behindertengleichstellung im öffentlichen Verkehr
  • Schriftlicher Austausch mit Daniel Barmettler, kantonaler Geschäftsleiter von Pro Infirmis
  • Website der SBB zur Barrierefreiheit an Bahnhöfen
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