Konsternation beim Bischof

1000 Missbrauchsfälle: Jetzt schaltet sich Bischof Felix Gmür ein

Bischof Felix Gmür spricht von einem «unermesslichen Leid». (Bild: Archiv/A. Zimmermann)

«Ich bin erschüttert und sprachlos»: Felix Gmür, Bischof des Bistums Basel, äussert sich zu den Missbrauchsfällen in der römisch-katholischen Kirche. Nachdem Historikerinnen Geheimarchive durchstöberten, ist klar: Das Ausmass ist viel schlimmer, als bisher bekannt. Die Zuger und Luzerner katholische Kirche ringt nach Worten.

Mehr als 1000 Missbrauchsfälle seit 1950: Die Erkenntnisse einer umfassenden Studie der Universität Zürich, die am Dienstag veröffentlicht worden ist, erschüttern. Sexueller Missbrauch war in der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz während Jahrzehnten verbreitet. Viel verbreiteter, als bisher bekannt.

Erstmals haben unabhängige Forscherinnen Zugang zu Akten über sexuellen Missbrauch in den kirchlichen Archiven erhalten, erstmals konnten sie diese Geheimarchive untersuchen. Die Ergebnisse zeigen, dass drei Viertel der Betroffenen Minderjährige waren, über die Hälfte Knaben. Das sei aber nur die «Spitze des Eisbergs», hielten Monika Dommann und Marietta Meier, die Leiterinnen der Studie, fest. Sexueller Missbrauch sei in der römisch-katholischen Kirche jahrzehntelang verschwiegen, ignoriert oder bagatellisiert worden. Akten dazu seien auf Weisung des Vatikans vernichtet worden.

Identifiziert werden konnten 921 Betroffene und 510 Beschuldigte. Bis auf wenige Ausnahmen handelt es sich bei den Beschuldigten um Männer. In über 50 Prozent war der Täter eine pastoral tätige Person. Also etwa Priester. 

Das sagt Bischof Felix Gmür

Am Dienstagnachmittag meldet sich Felix Gmür zu Wort. Er ist Bischof von Basel, zum Bistum Basel gehören auch die Kantone Luzern und Zug. In einem schriftlichen Statement schreibt Gmür, der 1966 in Luzern geboren worden ist: «Die sexuellen Übergriffe durch Kleriker belasten mich schwer. Ich bin erschüttert und sprachlos über die Vorkommnisse; sie sind mit der Heilsbotschaft Jesu nicht vereinbar.» Gedanklich sei er bei den Betroffenen. Was diese durch Übergriffe von Klerikern erlebt hätten, sei schwer vorstellbar. «Die Erlebnisse haben verstört und zerstört, haben Vertrauen zu Menschen und ins Leben gebrochen und viele an ihrer Lebensentfaltung, am Aufbau tragfähiger Beziehungen gehindert.»

«Alles Geschehene muss ans Licht kommen.»

Felix Gmür, Bischof

Gmür schreibt weiter: «Ich versichere, dass ich mich für die vollständige Aufarbeitung einsetze. Alles Geschehene muss ans Licht kommen.» Er sei sich bewusst, dass erlittenes Unrecht und Verletzungen nicht rückgängig gemacht werden könnten. Er könne nur um Vergebung bitten und versuchen, seinen Beitrag zur Heilung dieser Wunden beizutragen. «Ich anerkenne die Fehler, die im Bistum Basel geschehen sind, übernehme für die Schuld unserer Bistumskirche die Verantwortung und bitte für den zugefügten Schmerz um Verzeihung.»

Priester missbrauchte jahrelang Minderjährige – und wurde von Gmür geschützt

Gmür selbst stand vor Kurzem in der Kritik. Wie der «Beobachter» im August publik machte, missbrauchte ein Priester über mehrere Jahre hinweg eine Minderjährige. Felix Gmür soll ihn geschützt haben. Er hat kirchliche Voruntersuchungen gegen den Priester eingestellt. Zudem soll er es damals unterlassen haben, alle Unterlagen nach Rom zu schicken, wie es im Kirchenrecht Vorschrift ist.

Gegenüber dem «Beobachter» zeigte sich Gmür erst uneinsichtig. Später räumte er zwei Fehler ein: Das Bistum habe das Verfahren wegen eines Formfehlers eingestellt. Und das Opfer habe von ihm vorgelegte Dokumente nicht unterschrieben. Der zweite Fehler, der allerdings passierte: Eine Unterschrift in einer Voruntersuchung wäre gar nicht nötig gewesen.

Jetzt will Gmür, dass nichts mehr übersehen wird

Gmür denkt in seinem Statement auch an die Gläubigen. Viele von ihnen seien verunsichert und würden sich fragen, welchen Seelsorgern sie noch vertrauen könnten. Ihm sei es wichtig, dass Menschen das Vertrauen in die Kirche wiedergewönnen. «Daher ist es mir auch ein Anliegen, dass alles, was in den vergangenen Jahren unternommen wurde, nicht übersehen wird.»

Auch in Luzern ist man konsterniert

Auch die römisch-katholische Landeskirche des Kantons Luzern zeigt sich erschüttert. «Den betroffenen Menschen wurde unbeschreibliches Leid zugefügt. Sie waren den Tätern schutzlos ausgeliefert. Sie wurden nicht gehört, nicht ernst genommen», schreibt Annegreth Bienz-Geisseler, Synodalratspräsidentin der römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Luzern. Der Synodalrat ist die Exekutive der Landeskirche.

Die Landeskirche und die Kirchgemeinde würden Mitverantwortung tragen, damit dies in Zukunft nicht mehr vorkomme. Man werde hinschauen, was ihre Rolle, die Rolle der Landeskirche und die der Kirchgemeinden gewesen sei.

«Unsere Landeskirche hat sich in den vergangenen Jahren stark für Aufarbeitung und Prävention eingesetzt.»

Annegreth Bienz-Geisseler, Synodalratspräsidentin der römisch-katholischen Landeskirche Kanton Luzern

«Unsere Landeskirche hat sich in den vergangenen Jahren stark für Aufarbeitung und Prävention eingesetzt», hält die Synodalratspräsidentin weiter fest. Als Beispiel nennt sie die Studie «Hinter Mauern», in der die römisch-katholische Landeskirche des Kantons Luzern 2013 den Missbrauch von Verding- und Heimkindern in kirchlich geführten Erziehungsanstalten dokumentierte. «Dem Thema Nähe und Distanz schenken wir bei Anstellungsgesprächen grosse Beachtung.» Kirchliche Mitarbeitende würden dazu regelmässig geschult. Man überprüfe die Prozesse und Abläufe weiter und setze sich gemeinsam mit der Bistumsregionalleitung und dem Bistum ein, «dass solche Verbrechen nicht mehr geschehen».

Bischofsvikar Hanspeter Wasmer fehlen die Worte: «Für mich als Priester ist jeder Missbrauchsfall in der Kirche eine Abscheulichkeit. Ich verstehe nicht, wie Mitbrüder und andere Seelsorgende so etwas Menschen, vor allem Kindern und Jugendlichen, antun konnten.» Er sei dankbar, dass mit der Studie Fälle erforscht und aufgeklärt würden, wie er auch dankbar sei für die bereits eingeführten Präventionsmassnahmen, die schweizweit noch verbessert würden.

Bischofskonferenz will unabhängige Meldestelle schaffen

In Zug ringt man ebenfalls um die richtigen Worte. Arnold Landtwing, der Mediensprecher der Katholischen Kirche Kanton Zug, ist in Gedanken bei den 921 Betroffenen, die identifiziert werden konnten. In der Medienkonferenz vom Dienstagmorgen habe es Bischof Joseph Maria Bonnemain seiner Meinung nach auf den Punkt gebracht: «Nur eine gewaltfreie Kirche hat eine Daseinsberechtigung.»

Die Mitglieder der Bischofskonferenz teilten am Dienstag bereits mit, dass sie eine unabhängige Meldestelle schaffen und finanzieren würden wollen. Zudem müssten künftig alle Kandidaten in einer Ausbildung für die Seelsorge einheitliche psychologische Tests durchlaufen, wie «kath.ch» berichtete.

In Luzern und Zug bestehen bereits Massnahmen im Rahmen des Schutzkonzepts, das Felix Gmür angesprochen hat. Dazu gehört auf Stufe Mitarbeiter und Leitungspersonen ein obligatorischer Kurs zu Nähe und Distanz sowie ein Update für Leitungspersonen. Das Thema Nähe und Distanz werde zudem in jedem jährlichen Mitarbeitergespräch eigens angesprochen, wie Landtwing ergänzt.

«Die Erkenntnisse der Studie nennen systemische Strukturen, die Missbrauch begünstigt oder gar ermöglicht haben, klar beim Namen. Das verstehen wir als Auftrag, […].»

Arnold Landtwing, Mediensprecher Katholische Kirche Kanton Zug

Alle drei Jahre müssten die Seelsorgenden im Bistum ausserdem einen Privat- und einen Sonderprivatauszug vorlegen. Ein Augenmerk gelte auch Freiwilligen. Landtwing sagt weiter: «Die Erkenntnisse der Studie nennen systemische Strukturen, die Missbrauch begünstigt oder gar ermöglicht haben, klar beim Namen. Das verstehen wir als Auftrag, Massnahmen noch zu verstärken und konsequent dranzubleiben.» Zudem werde man Mitte September alle Seelsorgerinnen und Kirchenräte in einem vertraulichen Rahmen zu Gespräch und Austausch einladen. Auch eine Psychotraumatologin sei vor Ort.

Gemäss Dominik Thali, Mediensprecher der Katholischen Kirche im Kanton Luzern, befasst man sich in Luzern seit rund 15 Jahren mit dem Thema Missbrauch. So entstand beispielsweise 2013 der Leitfaden «Schutz vor Grenzverletzungen und sexuellen Übergriffen in der kirchlichen Arbeit». Vor drei Jahren verabschiedete der Synodalrat ein Papier mit Grundsätzen und Selbstverpflichtung zum Schutz vor sexueller Belästigung und Ausbeutung. Dazu sagt Thali: «Die darin definierten Massnahmen sind verbindlich für die Landeskirche, deren Mitarbeitende und Angebote.» Im Leitfaden wird den Kirchgemeinden und anderen kirchlichen Einrichtungen empfohlen, selbst solche verbindlichen Regeln einzuführen.

Verwendete Quellen
  • Medienmitteilung der Universität Zürich und Bericht zum Pilotprojekt zur Geschichte sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts
  • Schriftliches Statement von Bischof Felix Gmür, Bistum Basel
  • Artikel im «Beobachter»
  • Weiterer Artikel im «Beobachter»
  • Statements der römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Luzern
  • Schriftlicher Austausch mit Dominik Thali, Mediensprecher der römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Luzern
  • Schriftlicher Austausch mit Arnold Landtwing, Mediensprecher Katholische Kirche Zug 
  • Medienmitteilung der Katholischen Kirche Nidwalden
  • Medienbericht von «kath.ch»
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