Aufruhr an Zuger Maturafeier 1973

Wie eine Rede von Jo Lang für grossen Wirbel sorgte

50 Jahre nach jener Rede schildert Jo Lang als Direktbetroffener seine Sicht der Dinge. (Bild: fotozug.ch/Christian H. Hildebrand)

Eine Rede, die zu reden gab: Vor 50 Jahren hielt Jo Lang in Zug eine Maturaansprache, die für viel Aufsehen sorgte. Dank der Intervention von Erziehungsdirektor Hans Hürlimann lief die Veranstaltung damals nicht aus dem Ruder.

«Hart am Rande eines handfesten Skandals», übertitelten die «Luzerner Neueste Nachrichten» («LNN») ihren Bericht zur Maturafeier der Kantonsschule Zug im Sommer 1973. «Allein Dr. Hürlimann ist es zu verdanken, dass die Feier zum Schluss nicht in einen Skandal ausartete», hielt der «LNN»-Journalist im Nachgang zur Feier vom 2. Juli 1973 fest. Hans Hürlimann, der damalige Zuger Erziehungsdirektor, Ständerat und spätere Bundesrat, sei der «Retter in der Not» gewesen.

Der Anlass schlug hohe Wogen: So berichteten auch das «Luzerner Vaterland», das «Luzerner/Zuger Tagblatt» und die «Zuger Nachrichten» am 4. Juli 1973 von den Ereignissen rund um diese Maturafeier. Was war passiert? Jo Lang, der spätere Zuger Nationalrat, war von seinen Mitstudierenden ausgewählt worden, die Maturarede zu halten. Der besagte «LNN»-Reporter schilderte diese Rede in seinem Bericht unter anderem so: «Lang, unseres Wissens ein sehr intelligenter junger Mann, schoss dabei über das Ziel hinaus.» Zwar habe er auch «ein paar gute Gedanken in die Runde geworfen». Aber «als er dann, kaum trocken hinter den Ohren, die Armee aufs Korn nahm», habe er «dem drohenden Räuspern im Publikum nur noch die Tapferkeit des Einsamen am Rednerpult» entgegensetzen können.

Ein «besorgter Vater» aus dem Publikum habe in der Folge den Antrag gestellt, darüber abzustimmen, ob man den jungen Linken weitersprechen lassen wolle. Einige Gäste hätten den Saal ostentativ verlassen. Ein Teil der Professorenschaft hingegen habe geschmunzelt. Dann aber habe Erziehungsdirektor Hans Hürlimann interveniert und «zu demokratischem Verhalten» aufgefordert. In der Folge konnte Lang gemäss diesem Zeitungsbericht weitersprechen.

«Einige Eltern hatten sich abgesprochen»

50 Jahre nach jener Rede schildert Jo Lang als Direktbetroffener auf Anfrage seine Sicht der Dinge und wie er jenen Abend in der Athene – dem damaligen Sitz der Zuger Kantonsschule – erlebte. «Tatsächlich war nicht meine Rede wild, sondern das, was im Publikum damals abgegangen ist. Offenbar hatten sich reaktionäre Eltern darauf vorbereitet, meine Rede zu stören.» Er sei damals von den Mitschülern als Maturaredner bestimmt worden. «Dem Rektor aber passte die vorliegende Auswahl nicht. Er suchte darum – während schriftlicher Maturaprüfungen – die Maturaklassen auf und präsentierte seine Option. Damit kam es wohl erstmals zu einer Wahl, die klar zu meinen Gunsten ausfiel.»

«Dass es Reaktionäre im Publikum hatte und dass diese so reagierten, passte bestens in meine Analyse der rechtsbürgerlichen Intoleranz.»

Jo Lang

Jo Lang erzählt, er sei bereits von reaktionären Eltern unterbrochen worden, bevor er überhaupt auf seine beiden Hauptthemen zu sprechen kommen konnte. «Dies und auch der weitere Fortgang zeigen, dass sich einige Eltern abgesprochen hatten. Das äusserte sich auch im Umstand, dass diese Eltern Zwischenrufe lancierten, als ich noch beim Loben offen gesinnter Lehrpersonen war. Die Störaktionen von Eltern provozierten Maturandinnen und Maturanden, die aufstanden und betonten, sie hätten mich gewählt, und man solle doch bitte ihren Wahlentscheid respektieren.» So sei es hin und her gegangen – zwischendurch habe er immer mal wieder seine Rede fortsetzen können. Er habe zwar nicht mit solchen Störungen gerechnet. «Ich liess mich aber auch nicht aus der Fassung bringen. Dass es Reaktionäre im Publikum hatte und dass diese so reagierten, passte bestens in meine Analyse der rechtsbürgerlichen Intoleranz.»

Die Intervention von Erziehungsdirektor Hürlimann

Ob Tumult das richtige Wort sei für das, was damals ablief, wisse er nicht, sagt Lang heute. «Aber von oben kamen mir die Wortgefechte zwischen Eltern und Maturanden im Publikum schon ziemlich heftig vor. Soweit ich mich erinnere, bin ich nicht auf die Störaktion eingegangen. Wenn es im Publikum zu laut wurde, habe ich unterbrochen und dann wieder weitergesprochen. Ungestört reden konnte ich erst, nachdem der Erziehungsdirektor Hans Hürlimann aufgestanden war und auf die demokratische Wahl des Redners hingewiesen hatte.»

«In Zug zirkulierte der Witz, Hans Hürlimann habe sich die Wahl mit seinem erfolgreichen Auftritt an der Maturafeier verdient.»

Jo Lang

Irgendwann sei nämlich Hans Hürlimann, der neben dem Rektor in der vordersten Reihe sass, aufgestanden und habe sich zuerst ans Publikum gewandt: «Herr Lang wurde von seinen Mitschülern demokratisch gewählt. Wir sind hier an einer demokratischen Schule. Ich bitte Sie, Herrn Lang ausreden zu lassen.» Dann habe sich Hürlimann an ihn selbst gewandt: «Und Herr Lang bitte ich, seine Rede etwas zu kürzen.» Ab diesem Moment sei völlige Ruhe gewesen, erinnert sich Jo Lang heute. «Damals hatten Politiker noch Autorität. Ein halbes Jahr später wurde der Regierungs- und Ständerat Hans Hürlimann in den Bundesrat gewählt. In Zug zirkulierte der Witz, er habe sich die Wahl mit seinem erfolgreichen Auftritt an der Maturafeier verdient.»

Demokratisierung der Schulen und der Gesellschaft gefordert

Auf die Frage, ob er sich vorstellen könnte, dass heute jemand aus der aktuellen Zuger Regierung in einer vergleichbaren Situation ähnlich handeln würde wie damals Erziehungsdirektor Hans Hürlimann, antwortet Jo Lang: «Im heutigen Regierungsrat gibt es kein Mitglied, dem ich das zutraue.»

Was den Inhalt seiner damaligen Rede betreffe, so könne er nur aus der Erinnerung schreiben, hält Jo Lang fest. «Ich habe das Manuskript verloren, und zu hören bekam ich diese Rede nie, obwohl sie aufgenommen worden war.» Der Inhalt der Rede habe in vielem dem Inhalt von «ça ira», der Zeitung zur Matura 1973, entsprochen. Diese Zeitung war 1973 von einigen Zuger Maturi – unter anderem eben auch von Jo Lang selbst – herausgegeben worden. «Wir richten unsere Angriffe nicht auf einzelne Personen, sondern auf das System», hiess es in «ça ira» unter anderem. «Die Schüler haben an der Kanti sozusagen nichts zu sagen. Die Lehrer auch.» Gefordert wurde eine allgemeine Demokratisierung der Schulen und der Gesellschaft. Jo Lang sagt dazu: «Es ging darum, die neuen Ideen der bewegten Zuger Jugend vorzustellen sowie demokratische Rechte zu fordern.»

«Der 68er-Bruch war in der Zentralschweiz besonders stark»

Jo Lang weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass «68» in den meisten Ländern nach 1968 stattgefunden habe. «In Zug kann man 1971 bis 1975 zu ‹68› zählen. Der ‹68er›-Bruch war in der Zentralschweiz besonders stark, weil hier die Verhältnisse besonders zementiert waren – auch medial.»  Das, was Lang als «Zementierung» bezeichnet, habe nicht nur die Bürgerlichen, sondern durchaus auch die offizielle Linke betroffen. So hätten beispielsweise damals die Zuger SP und die wichtigste Gewerkschaft, die SMUV, 1970 die Schwarzenbach-Initiative befürwortet.

Verschärfend habe auch der Umstand gewirkt, dass der Zusammenstoss des Alten und des Neuen häufig innerhalb der Familien verlaufen sei. «In den meisten Fällen führte das bei den Eltern zu einer Verhärtung, in einigen Fällen zu einem grösseren Verständnis. Das Letztere war bei Hans Hürlimann der Fall, der drei Kinder hatte, von denen zwei etwas älter als ich waren, und die mit dem Vater und der Mutter ab 1968 heftige Diskussionen führten.»

Frau Hürlimann gab ihre Stimme Lang und Uster

Jo Lang sagt zu den Gründen der Intervention von Hans Hürlimann anlässlich der Maturafeier 1973: «Ich gehe vom Faktum aus, dass sich Hans Hürlimann damals für mein Rederecht und für das demokratische Wahlrecht der Schülerinnen und Schüler eingesetzt hat.» Dank der Diskussionen mit seinen beiden damals erwachsenen Kindern, die stark vom 68er-Geist beeinflusst waren, sei sich Hans Hürlimann gewohnt gewesen, sich diesem zu stellen.

«Zentral waren auch die demokratischen Rechte an der Schule.»

Jo Lang

 «Die Mutter von Thomas Hürlimann wurde später eine treue Wählerin von uns», hält Jo Lang weiter fest. Letzteres habe ihr Sohn, der Schriftsteller Thomas Hürlimann, immer wieder bestätigt. Entsprechend schreibt Thomas Hürlimann in seiner Textsammlung «Abendspaziergang mit dem Kater» über seine Mutter Marie-Theres Hürlimann: «Aber ihre Stimme bekamen nun Jo Lang und Hanspeter Uster, die Gründer der RML, der Revolutionären Marxistischen Liga.»

Maturafeier 1973 als Schlüsselereignis

Die Zuger Maturafeier 1973 müsse vor diesem ganzen Hintergrund analysiert werden, so Jo Lang. «Mein Ziel, für das ich von den Mitschülerinnen und Mitschülern gewählt wurde, war es, den Anwesenden zu erklären, was uns Junge bewegt, warum wir den Status quo ablehnen und was wir ändern wollen. Zentral waren auch die demokratischen Rechte an der Schule.» Er sei später häufig auf die damalige Rede angesprochen worden, erzählt Jo Lang. «Da ich mich damals aber vor allem unter Jugendlichen bewegte, waren es vor allem positive Reaktionen. Aber ich weiss, dass der damalige Rektor aus bürgerlichen Kreisen massiv kritisiert wurde, jemanden wie mich 1971 an diese Schule aufgenommen zu haben.»

Die Maturafeier 1973 sei ein Schlüsselereignis von «68» im Zuger Land, hält Jo Lang 50 Jahre später fest. «Die Maturafeier war Teil eines Einschnitts. Der 68er-Geist, den unsere Generation in Zug verkörperte, war hier ein besonders starker Einschnitt. In einem gewissen Sinne stehen die Zuger Alternativ-Grünen, die stärksten Grünen der Zentralschweiz, in einer Kontinuität zur Neuen Linken der 70er-Jahre.» 1973/74 sei auch wirtschaftlich eine Zäsur in der Zuger Geschichte gewesen: «Mit der Gründung der Marc Rich AG begann der Aufstieg des Rohstoffhandelsplatzes. Dieser wurde zu dem grossen Zuger Thema. Und wir wurden zu dessen Hauptkritikerinnen und Hauptkritiker.»

«Dafür bin ich Ihnen ewig dankbar»

Jo Lang berichtet zum Schluss noch von einem Erlebnis, das sich 1992 ereignete und einen Bogen zu den Ereignissen im Sommer 1973 schlug: «19 Jahre nach jener Maturafeier wurde Thomas Hürlimann auf dem Zugersee-Schiff als Literaturpreisträger gefeiert. Ich war ebenfalls zu dieser Feier eingeladen worden. Hans Hürlimann bat seinen Sohn Thomas, mich an seinen Tisch in der Mitte der Festgemeinde zu holen. Im Gespräch, an dem auch seine Frau teilnahm, sagte er zu mir: ‹An der Maturafeier habe ich damals dafür gesorgt, dass Sie Ihre Rede zu Ende führen konnten.› Ich antwortete ihm: ‹Ja, dafür bin ich Ihnen ewig dankbar. Aber Sie haben es auf schlaue Art gemacht. Sie sagten: Wir sind hier an einer demokratischen Schule. Damit widersprachen Sie einer meiner Hauptaussagen.› Das doppelte Kompliment rührte den altersschwachen und halb erblindeten Mann derart heftig, dass ihm die Tränen kamen.» Jo Lang führt noch an, dass der alt Bundesrat zwei Jahre später, im Februar 1994, im 75. Altersjahr verstarb.

«Als korrekter, solider Bursche in Erscheinung getreten»

Jo Langs Rede von 1973 wurde rund eineinhalb Jahre später auch in einem polizeilichen Leumundszeugnis erwähnt. Dieser Polizeibericht stand in Zusammenhang mit einem Militärprozess. Interessanterweise wird dabei ausdrücklich festgehalten, dass Jo Lang von seinen Mitschülerinnen und Mitschülern zum Redner bestimmt worden war.  

Hier der Wortlaut dieses Leumundszeugnisses: «Bei der Kantonsschule Zug ist Jo Lang so als fleissiger, intelligenter, charakterlich rechtschaffener, sowie im allgemeinen Verhalten gegenüber der Lehrerschaft als korrekter Schüler in Erinnerung. Die Matura hat er mit Erfolg abgeschlossen. Bei der Maturaabschlussfeier im Frühsommer 73 hat er, nach Wahl seiner Kommilitonen, die Maturarede gehalten. Im übrigen ist er in Zug (Jünglingsheim) wie in Steinhausen, soweit als korrekter, solider Bursche in Erscheinung getreten.»

Der Leumundsbericht der Polizei.

Hinweis: Wir haben die Bildunterschrift noch mit weiteren Angaben der Fotoagentur ergänzt.

Verwendete Quellen
  • «Luzerner Neueste Nachrichten» vom 4. Juli 1973, S. 15
  • «Vaterland» vom 4. Juli 1973, S. 23
  • «Luzerner Tagblatt/Zuger Tagblatt» vom 4. Juli 1973, S. 8
  • «Zuger Nachrichten» vom 4. Juli 1973, S. 1
  • «ça ira», Maturazeitung 1973 Kantonsschule Zug
  • «Abendspaziergang mit dem Kater», Thomas Hürlimann, 2020
  • Schriftlicher Austausch mit Jo Lang
  • Schriftlicher Austausch mit Schweizerischer Nationalbibliothek (NB) Bern
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