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Zentralschweizer im 19. Jahrhundert auf Partnersuche

Wie frau vor 100 Jahren ihren Ehegatten fand? Auf zur Kilt!

Hochzeitspaar aus Ballwil um 1910. Bis zum Ersten Weltkrieg heiratete die Frau in einem schwarzen Kleid, das sie nach der Hochzeit weiter als Sonntagsgarderobe benutzte, einzig der Schleier war weiss.

(Bild: Fotoatelier Hirsbrunner, Luzern (Privatbesitz))

In der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts war der Ehestand ein umworbener Status. Nur: Wie fand man eigentlich vor über hundert Jahren einen Ehegatten? Nicht selten wurde der freiende Mann – der Kilter – mit gewürztem und gesüsstem Rotwein oder angereichertem Kirschwasser in der Kammer der holden Dame empfangen.

Für die Frau des 19. Jahrhunderts – eine als rechtlose und als unmündig erachtete Person – war die Heirat nicht nur Garant für eine lebenslange finanzielle Versorgung. Auch für die anerkannte soziale Stellung als Ehefrau und Mutter war die Ehe unabdingbar. Um die Eheschliessung zu initiieren, gab es verschiedene Techniken: Fädelten bei den städtischen Töchtern oftmals die Eltern eine Bekanntschaft ein, so näherten sich auf dem Lande die Geschlechter gleich selbst einander an. Gelegentlich kamen sie sich auch in die Quere, wie es die Umschweife des Kiltgangs – des traditionellen Werbeverhaltens – offenbaren. Der Kiltgang konnte Quelle eines lebenslangen Glücks wie auch der Beginn eines Desasters sein, zuweilen war er Keim gewalttätiger Auseinandersetzungen oder gar sozialer Stigmatisation.

Ein Anschlag aus heiterem Himmel

Am Mittwoch, 14. September 1892, abends um neun Uhr, trifft den Lehrer Xaver Künzli aus Nebikon in der einbrechenden Finsternis der Schlag. Dieser sei «mit einem schweren stumpfen Instrument» erfolgt, stellt der Altishofer Arzt Erni wenige Tage später fest, vermutlich mit einem Stein, «der die Haut durchschnitten hat bis auf die Gehirnschale». Mit anatomischer Gewissheit fügt er an: «Wäre der Schlag ein Zoll rückwärts auf der Mitte des Kopfes erfolgt, so wäre Künzli auf dem Platze tot geblieben.»

Als Täter stellt sich der zwanzigjährige Fabrikarbeiter Johann Jöri heraus. Er schoss den Stein, nachdem er des Abends mit seinem Kollegen Jakob Arnold in der Wigger baden gegangen war. Gemäss Jöri war es ein Unfall aufgrund einer Schutzhandlung – Künzli hätte sie nämlich angreifen wollen. Für Künzli hingegen war es ein Anschlag, der ihn aus heiterem Himmel auf seinem Heimweg traf.

Die «Jungfrau»war wohl keine mehr

Ob Unfall oder Attacke, die Tat erfolgte wegen einer Frau: Die «Jungfrau» Elisa Kneubühler wohnte unweit des Tatorts auf dem Hof ihrer Pflegeeltern auf dem Stempfelberg ob Nebikon. Sie hatte den Abend, wie bereits einige davor, bei Künzli zugebracht. Auf ihr Verlangen hin begleitete dieser seine ehemalige Schülerin in der Finsternis nach Hause. Unweit des elterlichen Hofes meinte dann die junge Frau, «sie dürfe nun allein gehen, es fürchte ihr nicht mehr». Hierauf habe sich Künzli zur Rückkehr entschlossen und den verhängnisvollen Heimweg angetreten.

Arnold und Jöri allerdings berichteten dem Willisauer Amtsstatthalter, ein sich umarmendes Paar gesehen und die Hilferufe einer Frau gehört zu haben. In der Sorge um die Frau hätten sie sich darauf dem Paar genähert und den Mann, der sie alsdann angreifen wollte, mit einem Stein ausser Gefecht gesetzt.

Die Akten zu diesem Fall sind im Luzerner Staatsarchiv überliefert. Auf der Suche unter dem Begriff «Kiltgang» wird man hier bei den Gerichtsakten fündig. Zweimal kam der Begriff vor. Vermerk: Körperverletzung wegen Kiltgangs.

Nächtliches Tändeln

«Kiltgang» ist schweizerisch für das Nachtfreien junger Männer. Der Begriff «kilten» kommt vom germanischen «kwelda» und meint die romantische Zeit des Sonnenuntergangs.

Auf der Suche nach einer heiratsfähigen Frau schlich sich der junge Mann, einzeln oder in Gruppen unterwegs, unter das Fenster seiner Angebeteten und bat mit verstellter Stimme, wohlgesetzten Reden oder mit besonderen Kiltsprüchen um Einlass. Er hoffte auf ein Zusammensein in der familiären Stube oder auf den direkten Einlass durch das Fenster in die Kammer der jungen Frau. Die süddeutsche Bezeichnung «fensterln» verweist direkt auf diese Praxis. Weitere Namen für die Sitte sind im deutschen Sprachraum beispielsweise «z’Stubeti go» und «z’Liecht go». In der Stube, oder eben der Kammer, wurde der Kilter mit reich gewürztem und gesüsstem Rotwein, bekannt als «Hypokras», oder angereichertem Kirschwasser wie dem «Nidwaldner Rosoli» empfangen.

Kilt und Körper

Der Kiltgang war im gesamten Alpenraum verbreitet. Hinsichtlich der Intimität zwischen den Geschlechtern gab es regionale Unterschiede. Historiker nehmen an, dass es bei den romantischen Treffen im Zimmer der Mädchen durchaus auch zu Geschlechtsverkehr kommen konnte. Zumindest empörte sich im Jahre 1822 hierüber der Berner Pfarrer und Volksliederdichter Gottfried Jakob Kuhn (1775–1849). In der Schrift «Der Kiltgang. Ein ernstes Freundeswort an christliche Eltern und Hausväter», die er «allen Freunden der Zucht, Sitte und Ehrbarkeit zur Verbreitung» empfahl, umschreibt er die Unsitte: «Junge ledige Leute beiderlei Geschlechts, im gefährlichsten, leichtsinnigsten Alter ihres Lebens, besuchen sich in finsterer Nacht, einsam, von niemand bewacht, heimlich, verstohlen, besuchen sich sogar im Bette!»

Wert und Würde

Durchaus konnte der Kiltgang zwei Menschen durch die Spielformen der Liebe einander näherbringen. In ländlichen Regionen mochte das nächtliche Rendez-vous zugleich dazu dienen, die Möglichkeit einer Schwangerschaft zu testen und den Heiratsentschluss der Männer davon abhängig zu machen, hofften doch die jungen Bauernsöhne, mit der angehenden Bäuerin eine Vielzahl von Kindern zu zeugen. Ein sicherer Wert für die Männer, ein unsicherer für die Frauen.

Trotz des grundsätzlichen Heiratszwangs bei Schwangerschaft riskierten die Frauen die Schande einer unehelichen Geburt. Nicht selten nämlich bestritt der «Bube» gemäss Kuhn die Vaterschaft bis zum Ablauf der Klagefrist. Die Ächtung jener Frauen und der Verstoss dieser Kinder enthüllen die Schattenseiten des Kiltgangs.

In dubio pro homine?

Zurück zu den Gerichtsakten: Womöglich hatte Elisa Kneubühler tatsächlich geschrien. Vielleicht aus Spass, um Künzli zur Umkehr zu bewegen, und ihm ihre Kammer anzubieten? Vielleicht schrie sie tatsächlich um Hilfe. Sollte sich Künzli an ihr vergriffen haben? Vielleicht aber auch rächte sich der junge Jöri an Künzli, der ihm seine Angebetete auszuspannen drohte?

Ob Künzli tatsächlich Opfer eines Unfalls oder eher einer Attacke wurde und welche Rolle Elisa Kneubühler dabei spielte, das steht bis anhin offen.

Autorin: Barbara Steiner

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