Sonderschule

Luzern: Nur ein Bruchteil aller Heilpädagogen ist ausgebildet

Heilpädagoginnen verzweifelt gesucht: In Luzern fehlen Lehrer, die sich um Kinder mit besonderem Bildungsbedarf oder einer Behinderung kümmern. (Bild: Symbolbild: Taylor Wilcox/Unsplash)

In Luzerner Sekundarschulen sind nicht einmal zwei von zehn Sonderschullehrerinnen vollständig ausgebildet. Eine Luzerner Kantonsrätin ist besorgt.

Dutzende Schüler mit einer Autismus-Spektrum-Störung, ADHS oder anderen artverwandten Beeinträchtigungen werden in Luzern weder in ihrer Regelklasse noch in Sonderschulen unterrichtet. Sondern sie werden auf die Schulbank von privaten Schulen geschickt. Und das, obwohl solche Kinder Anrecht auf eine Sonderschule hätten.

Gemäss einem Bericht der «Luzerner Zeitung» werden 49 Schülerinnen mit Autismus, ADHS oder einer artverwandten Beeinträchtigung in regulären Privatschulen unterrichtet. Die Tendenz sei steigend.

In der Sek sind 13,2 Prozent der Heilpädagogen ausgebildet

Das rief auch die Politik auf den Plan. SP-Kantonsrätin Gisela Widmer Reichlin reichte eine Anfrage zum Thema ein. Sie wollte es genau wissen, stellte bis zu acht Unterfragen pro Hauptfrage. Unter anderem wollte Widmer Reichlin wissen, welche Strategie die zuständige Dienststelle Volksschulbildung verfolgt und wie das mit den privaten Regelschulen, die Sonderschüler unterrichten, genau abläuft. Und: Sie wollte wissen, wie viele der Lehrerinnen an Luzerner Schulen über die vollständige erforderliche Zusatzausbildung zur Heilpädagogin besitzen.

Nun liegt die Antwort der Regierung vor. Gerade die Zahlen zur Situation der schulischen Heilpädagoginnen/Lehrer für Integrierte Förderung (IF) und Deutsch als Zweitsprache (DaZ) sind ernüchternd. So fehlen 73,7 Prozent vollständig ausgebildete IF-Lehrpersonen auf der Kindergarten- und Primarstufe sowie 91,7 Prozent an den Sekundarschulen. Und bei der integrativen Sonderschulung fehlen auf der Kindergarten- und Primarstufe 61,5 Prozent vollständig ausgebildete schulische Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, auf der Sekundarstufe 86,8 Prozent. Als vollständig ausgebildet gilt, wer das Lehrdiplom auf der Unterrichtsstufe sowie den Master als schulische Heilpädagogin besitzt.

«Die heutige Bestandesaufnahme ist sehr bedenklich, zumal man ja nicht weiss, seit wann dieser Zustand bereits anhält.»

Gisela Widmer Reichlin, SP-Kantonsrätin

Was man getan hat, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken? Die Pädagogische Hochschule (PH) Luzern und die Dienststelle Volksschulbildung haben «intensiv Werbung» für die Rekrutierung von Fachpersonen gemacht. Zudem wurde der Quereinstieg in den Lehrberuf sowie ins Masterstudium «Schulische Heilpädagogik» möglich. Derzeit würden laut Angaben der Regierung weitere Massnahmen konkretisiert, welche den Lehrerinnenberuf attraktiver machen sollten. Der Rat habe sich nun «ein erstes Mal beraten» und werde «in naher Zukunft zielgerichtete Massnahmen beschliessen».

SP-Kantonsrätin zeigt sich «sehr besorgt»

Bei Gisela Widmer Reichlin lösen diese Zahlen vor allem eines aus: «grosse Sorgen». Auf Anfrage sagt sie: «Die heutige Bestandesaufnahme ist sehr bedenklich, zumal man ja nicht weiss, seit wann dieser Zustand bereits anhält. Ich bin sehr besorgt, was die Ausbildungsqualität der betroffenen Kinder und Jugendlichen betrifft, die auf diese Stütze angewiesen sind.»

Sie sorge sich aber auch um Lehrpersonen, die sich der integrierten Förderung angenommen hätten, ihren Berufsauftrag ernst nehmen und bestmögliche Unterstützung geben möchten. Oder die Schulleitungen, die Stellen besetzen müssten, jedoch immer weniger ausgebildete Fachleute einstellen können und eigentlich mehr Ressourcen für die Begleitung dieser Lehrpersonen bedürften.

Sie hofft, dass die Regierung Wort halte und «in naher Zukunft zielgerichtete Massnahmen» beschliessen werde. Denn für sie ist die Frage zentral, wie man im Kanton Luzern mehr Lehrpersonen für die Masterausbildung als schulische Heilpädagogen gewinnen und im beruf halten kann.

So viel zahlt der Kanton pro Kind an private Schulen

Widmer Reichlin wollte von der Regierung auch wissen, welche Strategie die Dienststelle Volksschulbildung bei der separativen Sonderschulung an privaten Regelschulen in den nächsten Jahren verfolgt. Die Regierung schreibt dazu: «Die bisherige Praxis soll beibehalten werden.»

Grundsätzlich würden nur Kinder mit einer Behinderung im Bereich Verhalten und sozio-emotionale Entwicklung im Rahmen einer separativen externen Sonderschulung einer privaten Regelschule zugewiesen. Das werde nur bei «ängstlichen und depressiven Störungen» verfügt. In Privatschulen seien die Klassen kleiner, das Umfeld ruhiger. Idealerweise seien zwischen 8 und 12 Schülerinnen in einer Klasse, wobei die Schulleiterinnen jedoch dafür verantwortlich seien.

Private Regelschulen müssten drei Voraussetzungen erfüllen, damit sie Sonderschüler unterrichten können:
1.) Die Privatschule muss vom Kanton anerkannt sein, der Unterricht erfolgt nach kantonalen Vorgaben.
2.) Neu bewilligte private Regelschulen müssen zwei Jahre erfolgreich geführt werden, bevor sie Sonderschülerinnen unterrichten dürfen.
3.) Klassenlehrer müssten Erfahrungen im Umgang mit verhaltensauffälligen Schülerinnen nachweisen oder die heilpädagogische Ausbildung absolviert haben.

Der Kanton bezahlt den privaten Schulen zwischen 61.85 bis 99.70 Franken pro Kind und pro Tag. Eltern müssen nichts zahlen. Denn gemäss Bundesverfassung gilt für die obligatorische Schulzeit: Der Schulbesuch ist kostenlos für alle Kinder.

Autismusdiagnosen nehmen zu

Wie die Regierung weiter ausführt, hätten gerade Diagnosen im Bereich Autismus zugenommen. Spezifische Klassen gebe es für betroffene Schülerinnen nicht mehr. Auf die Frage, wie viele Fachkräfte mit Zusatzausbildung in diesem Bereich fehlen, antwortet die Regierung ausweichend, dass Fachkräfte in den meisten Bereichen der Bildung gesucht würden, spezifische Zahlen könne sie keine nennen.

Erschwerend kommen die langen Wartezeiten hinzu, bis betroffene Kinder eine Diagnose kriegen. Dafür ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie verantwortlich. Im April betrug die Wartezeit knapp zwölf Monate. Gemäss Regierung konnte man diese reduzieren – doch die betroffenen Kinder und Eltern müssen immer noch neun Monate warten.

Regierung will «Schulinseln» mitfinanzieren

Allgemein findet es die Regierung zentral, dass an einzelnen Schulen das Fach- und Expertenwissen ausgebaut wird. «Lehrpersonen oder schulische Heilpädagoginnen aus dem Team sollen nach Möglichkeit vor Ort erste Ansprechpersonen für Förderung oder die Begleitung von anspruchsvollen Situationen sein.»

Die Regierung zieht es in Erwägung, künftig sogenannte «Schulinseln» mitzufinanzieren, um die integrative Förderung an den einzelnen Schulden zu stärken. Unter Schulinseln versteht man «alternative Lernorte», um Kinder mit speziellen Bedürfnissen aufzufangen. Sei es, weil sie Lernlücken haben oder den Unterricht stören. Ziel ist es, sie in normale Klassen wieder zu reintegrieren.

Verwendete Quellen
  • Anfrage von Gisela Widmer Reichlin
  • Antwort der Luzerner Regierung
  • Telefonat mit Gisela Widmer Reichlin
  • Artikel in der «Luzerner Zeitung»
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