Das grosse Rätseln nach dem Warum

Stadt Luzern wirft Boccia-Spieler nach 90 Jahren raus

Viele Jahrzehnte Boccia-Erfahrung treffen sich hier im Vereins-Grottino: Präsident Roberto Gasperi (links) und Team-Kollege Dino Amadò, der auch im Boccia-Weltverband tätig ist. (Bild: zar)

Der «Gruppo Bocciofilo Pro Ticino» muss Ende Jahr vom Bocciodromo zwischen Freigleis und Eichwäldli ausziehen. Die Vereinsmitglieder hadern mit dem Entscheid der Stadt Luzern – und wollen entweder «in Würde sterben» oder einen konkreten Grund.

Die Wurst hat zwei, das Bocciodromo (ausgesprochen BotschOdromo) zumindest ein aufgeschobenes; die Rede ist vom Ende. Schon im vergangenen Jahr lief der Mietvertrag aus. Die Stadt hat diesen dann um ein weiteres Jahr bis Ende 2024 verlängert. Auch, weil heuer der Boccia-Verein Pro Ticino sein 90-Jahr-Jubiläum feiert. Roberto Gasperi, Präsident des Vereins, der sich zusammen mit Vereinskollege Dino Amadò, beide im Rentenalter, an diesem Freitagnachmittag zu einem klärenden Gespräch zu Espresso eingefunden hat, spricht von einer «Galgenfrist».

Zum Feiern ist den «giocatori di bocce» derweil aber nicht zumute. Dass es einmal enden würde, sei immer klar gewesen, meint Gasperi. Die Art und Weise wie, dafür habe man weniger Verständnis. Zwar habe die Stadt einen Eigenbedarf geltend gemacht. Wozu sie aber die langgezogene Boccia-Halle mit angeschlossenem Grottino verwenden will, eingezwängt zwischen Freigleis und Eichwäldli?

Wird das Strasseninspektorat einziehen?

Gerüchte dazu zirkulieren viele. Wird das Strasseninspektorat die Halle in Beschlag nehmen? Werden bald Signalisationstafeln hier gelagert? Einen konkreten Grund, warum sie die Halle brauche, habe die Stadt aber bis dato nicht genannt. Auch eine Anfrage von zentralplus bringt kein Licht ins Dunkel. Es gebe ein laufendes Projekt, zu dem man keine Angaben machen könne, lässt Marko Virant, Stadtbaumeister und Leiter Immobilien der Stadt Luzern verlauten.

Unabhängig davon, was aus dem Bocciodromo dereinst werden wird: Dass die Boccia-Spieler von Pro Ticino ihre sportliche Heimat auf Ende Jahr verlieren, hat weitreichende Auswirkungen. Zum einen droht nichts weniger als die Vereinsauflösung. Denn einen Umzug, wie ihn die Stadt vorgeschlagen hat, ins Bocciodromo im Mattenhof, könne der Verein finanziell kaum stemmen. Denn zwischen Freigleis und Eichwäldli werden nicht nur Hartkunststoff-Kugeln hin und her gerollt. Fast jede Woche finden hier auch Events für Vereine, Betriebe und sonstige Interessenten statt, mit Bewirtung im Grottino. Diese Veranstaltungen sind es, die dem Verein regelmässig Geld in die Kasse spülen.

Dino Amadò (links) und Präsident Roberto Gasperi vor dem Bocciodromo, der Ende Jahr seine Tore endgültig schliessen soll. (Bild: zar)

Güüggali-Zunft muss sich auf die Suche machen

Auch die Güüggali-Zunft muss sich nach einer anderen Venue umschauen. Denn schon seit über 40 Jahren lässt sie hier im Bocciodromo jeweils ihre Weihnachtsparty mit Luzerns Stadtoriginalen steigen. Gasperi zückt sein Smartphone, wischt hin und her, bis er endlich sein Beweisvideo abspielen kann: Bo Katzman an der Gitarre zupfend und singend – in der Vereinshalle. Bekannte SRF-Moderatorinnen seien hier auch schon aufgetreten sowie viele andere Persönlichkeiten von Rang und Namen. «Damit wird Schluss sein.»

Daneben gibt es aber auch noch den sportlichen Aspekt. Und da wird eine Lücke klaffen, sollte die Boccia-Untersektion des Tessinervereins nicht mehr sein – selbst wenn einige Mitglieder bei befreundeten «Rivalen» Unterschlupf finden. Denn ohne «blöffe» zu wollen: Pro Ticino habe den Boccia-Platz Luzern in den vergangenen Jahren regelrecht dominiert. Unzählige Kantonalmeister habe der Verein hervorgebracht.

Turniere künftig zum Teil auch in Zug

Zum anderen fallen zwei weitere «absolute Top-Bahnen» weg, gebaut von einem Mailänder Bahnbauer, dem internationalen Spezialisten schlechthin. Das entspricht einem Fünftel aller gedeckten und ganzjährig bespielbaren Bahnen in der Umgebung Luzern – was sich auch auf die Attraktivität als Austragungsort grösserer Turniere auswirken wird. «Diese werden künftig wohl teils auch auf Zuger Bahnen ausgetragen», so Gasperi.

Vor allem aber auch geht mit dem Pro-Ticino-Bocciodromo ein Ort des Zusammenkommens, des Austauschens, ja eine zweite Stube verloren – für Boccia-Liebhaber, Heimwehtessinerinnen und Italo-Schweizer gleichermassen. Und das macht auch die Konkurrenz betroffen. Eine «Katastrophe» nennt es Bruno Küng aus Kriens. Zusammen mit einer Handvoll Teamkollegen von der Bocciasektion des FCL bereitet er sich an diesem Freitagnachmittag auf ein Boccia-Turnier von kommender Woche vor. «Es geht ein Stück Geschichte verloren», schiebt Teamkollegin Brigitte Künzli aus Horw nach.

Hier wird die gut 900 Gramm schwere Boccia-Kugel gesetzt. (Bild: zar)

Die Mittefünfzigerin ist das Küken an diesem Nachmittag. Und ein ähnliches Bild bietet sich auch für den Gruppo Bocciofilo Pro Ticino. Club-Präsi Gasperi macht denn auch keinen Hehl daraus: Seine Boccia-Spieler gehören nicht mehr zu den jüngsten Semestern. Von den gut 20 lizenzierten Vereinsmitgliedern sind die meisten über 60. Das älteste Mitglied durfte unlängst gar den 91. Geburtstag feiern. «Das Problem hätte sich daher eher früher als später von allein gelöst», ist Gasperi überzeugt.

Auch andere Medientitel haben das drohende Aus thematisiert. Bis dato aber ist der Hilfeschrei unerhört geblieben, noch ist keine für alle einvernehmliche Lösung gefunden worden. Deshalb hoffen Gasperi und Amadò weiter. «Wir wollen doch bloss in Würde sterben!», sagts und lacht – wenn auch etwas verzweifelt. Und sollte das den Boccia-Spielern von Pro Ticino verwehrt bleiben, dann immerhin soll eine letzte krachende Feier steigen – wenn denn genügend Helfer gefunden werden.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Roberto Gasperi, Präsident des Vereins, und Dino Amadò, Vereinskollege
  • Augenschein vor Ort und weitere persönliche Gespräche
  • Schriftlicher Austausch mit Marko Virant, Stadtbaumeister und Leiter Immobilien der Stadt Luzern
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9 Kommentare
  • Profilfoto von Edith Lanfranconi
    Edith Lanfranconi, 02.05.2024, 15:56 Uhr

    Das ist soo schade! Gibt es nicht noch eine Möglichkeit, diesen tollen Ort als das zu erhalten, was er heute ist? Eine sympathische Nische für SportlerInnen und andere Menschen, die gerne an einem unkonventionellen Ort zusammen kommen. Und dort freundlich empfangen und fein bewirtet werden.

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    Alphons Bigler, 26.04.2024, 14:57 Uhr

    Es ist eine Schande und die Stadt sollte sich schämen! Wieder verschwindet ein kleines Stück Kulturgut sang- und klanglos…Franz (Kurzmeyer) wird sich im Grab umdrehen.

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    Paul, 26.04.2024, 13:53 Uhr

    Liebe Stadt. Nutzt das Häuschen am Bundesplatz oder das kioskhüüsli beim Eichhof oder eine der Bodumvillen. Da hats Platz, den keiner braucht.

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    Rita Bigler, 26.04.2024, 08:39 Uhr

    Das ist eine Schweinerei. Man nimmt den vielen vor allem den alleinstehenden Bocciaianer vom ProTicono die „Familie „. Den Treffpunkt zum Spielen, Essen und einfach zum fast alltäglichen Beisammen sein. Es is eine Farce zu denken, sie könnten das im Bal auch machen. Das Proti war und ist seit Jahren ihr Treffpunkt ihr zweites Zuhause. Wir, die nicht italienisch sprechenden, lieben es in ihre Welt im Proti einzutauchen. Es ist schwer zu verstehen, dass die Stadt sowas schliesst, eine wertvolle Institution für unsere Mitbewohner, die in jungen Jahren soviel zum Wohl unseres Landes beigetragen haben!

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    Mandolini Anita, 26.04.2024, 06:02 Uhr

    Dies ist sooo schlimm.lch kann es kaum fassen.Es ist sooo friedlich und kameradschaftlich .Also eine Schande würde ich sagen was da abläuft.Tut mir leid habe keine Worte mehr nur noch Tränen.Traurig traurig.

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    Lienard D., 26.04.2024, 02:12 Uhr

    Bisher war die Stadt auch ein soziales Projekt und nicht nur Verwaltung oder Handelzentrum. Ein Ziel war immer sozialen und räumlichen Spaltungen entgegenzutreten.
    Angestrebt waren ein ganzheitlicher Planungsansatz in der Form von integrativen Stadtentwicklungskonzepten, die über rein baulich-gestalterische Massnahmen hinausgingen. Quartiere entwickelten eigene Identitäten und Stadtraum wurde zum Erlebnisraum.
    Schon länger wurden einige diese Orte hauptsächlich dem Verkehr oder Handelsinteressen geopfert und damit Eigenheiten zerstört. Mit Mühe konnten manchmal einige Projekte verhindert werden, die dem Stadtbild oder der Stadtentwicklung schweren Schaden zugefügt hätten. Das neue Theaterprojekt ist ein solches.
    Der Rauswurf von "Gruppo Bocciofilo Pro Ticino" ist ein erneuter Akt von Identitätszerstörung. Bestimmten Kulturgruppen steckt man Millionen zu (KKL, Theater). Die Bocciofili sind unbedeutend, können sich nicht wehren und kann sie einfach wegwischen. Ohne Angaben von Gründen. Das ist deintegrativ.
    Was für eine Stadt!

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    Reto, 25.04.2024, 21:19 Uhr

    Geht gar nicht! Da macht sich jenand etwas zu eigen was nicht geht. Immer gepflegt und aufgeräumt. Nette Menschen. Für was wird das geopfert? Bleibt geheim. Aha! Das stinkt doch zum Himmel

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    Hanswurst, 25.04.2024, 18:38 Uhr

    Alles klar: Die derzeitig dominante städtische Politik sieht wohl in den Boccia-Spielern eine vernachlässigbare Randgruppe, deren Boomer brauchen doch keinen Freiraum. Dieser bleibt den Jungen und sogenannten Randgruppen vorbehalten, nur diese haben ein Recht auf Frei- und Veranstaltungsräume und stellen schliesslich auch die treue Wählerschaft. Super Klientelenwirtschaft.

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  • Profilfoto von Igor Pavlovic
    Igor Pavlovic, 25.04.2024, 18:34 Uhr

    Ich finde es schade, dass man so eine Institution zerstört. Obwohl ich mich gar nicht für Boccia interessiere, kann ich mir vorstellen, wie viele Menschen ein grosses Interesse an dem Verein haben und dass dieser einen wichtigen Bestandteil ihres Lebens einnimt. Die Stadt Luzern sollte nochmal über die Bücher. Denn es gibt sicherlich noch viele andere Orte, die sie brauchen kann.

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