Nahtoderfahrungen – ein Phänomen, das spaltet

«Dann waren sie da. Der Hang war voller Engel»

Der Zuger Daniel König hatte mit 42 Jahren eine Nahtoderfahrung beim Snowboarden in Davos. (Bild: Daniel König)

Der Zuger Daniel König hatte eine Nahtoderfahrung und ist überzeugt: Es gibt ein Jenseits. Der Philosoph Keith Augustine kämpft im Internet gegen solche Überzeugungen. Der Sozialwissenschaftler Stefan Nadile untersucht, wieso die Gesellschaft so polarisiert über das Thema diskutiert. Eine Spurensuche nach dem Jenseits.

Das Snowboard blieb im Schnee stecken, und Daniel König wurde weggeschleudert. Sein Kopf prallte auf das Eis. Stundenlang lag er im Schnee. Kurz vor der Nacht fand ihn das Rettungsteam – es brachte ihn sofort ins Spital in Davos. Seine Schwester wachte die ganze Nacht an seinem Bett. Am nächsten Morgen öffnete er die Augen. Ein Arzt kam ins Zimmer und sagte: «Herr König, eigentlich müssten Sie tot sein.»

Daniel König (59), Lebensberater und Buchautor aus dem Kanton Zug, hatte in jener Nacht am 25. Dezember 2007 eine Nahtoderfahrung. Diese Erfahrungen faszinieren. Der Tod macht Angst. Viele glauben, solche Erlebnisse könnten zeigen, was nach unserem Ableben geschieht.

«Sie haben mich angeschaut, und ich habe ihre Liebe, ihr Wohlwollen gespürt.»

Daniel König, Nahtod-Betroffener

Gemäss der Informationswebsite nahtod.ch sagt rund ein Fünftel der Menschen, welche einmal reanimiert worden sind, dass sie eine solche Erfahrung gehabt haben. Viele Betroffene glauben danach an ein Jenseits und berichten über ähnliche Wahrnehmungen: etwa das Verlassen des eigenen Körpers, eine Begegnung mit anderen Wesen oder ein summendes Geräusch. So auch Daniel König.

Im Auftrag der Engel

Er sei aus seinem Körper gezogen worden und habe durch die Berge hindurchblicken können, als seien sie ein Hologramm, erzählt König am Telefon über seine Nahtoderfahrung. Ein tiefes Summen habe er gehört, als stünde er neben einer Hochspannungsleitung. Dann habe er aufgeblickt und Wesen gesehen, die ausgesehen hätten wie die Figuren aus Barbapapa, der französischen Zeichentrickserie.

«Sie haben mich angeschaut, und ich habe ihre Liebe, ihr Wohlwollen gespürt.» Diese Lichtwesen, König nennt sie manchmal auch Engel, hätten ihm gezeigt, dass der Körper lediglich eine Hülle sei, die man beim Tod abstreift. Deshalb müssten Hinterbliebene nicht trauern. «Diese Trauer, das wollen die Toten nicht. Das tut auch den Toten weh», sagt König.

Die Wesen hätten ihm weiter gezeigt, dass sich die Menschen zu fest mit negativen Gedanken aufhalten. Er glaubt, dass sie dies daran hindere, Botschaften der Lichtwesen zu erhalten. Dann hätten die Engel ihm kommuniziert: «Jetzt gehst du das den Menschen erzählen.» Und unter riesigen Schmerzen sei er in seinen Körper zurückgepresst worden.

Die Erfahrung allein beweist nicht viel

König dürfte ein sehr intensives Erlebnis gehabt haben. Seine Wahrnehmungen fühlten sich für ihn wahrscheinlich absolut echt an. Das hinterfragt auch Keith Augustine nicht. Augustine ist ein amerikanischer Philosoph, der die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod intensiv studiert hat. Er lebt in Colorado und setzt sich mit seiner Internetfirma «Internet Infidels» für ein naturalistisches Weltbild ein. «Ich will wissen, was wahr ist», sagt er über seine Motivation. In vielen verschiedenen Wissenschaften wird das Phänomen untersucht. Die Zahl der aktiven Forscher ist aber sehr begrenzt.

«Ich glaube, durch das Studieren solcher Erfahrungen können wir mehr über die innere Funktionsweise des Geistes lernen.»

Keith Augustine, Philosoph und Forscher

Gibt es einen Grund, Königs Aussagen – Jenseits, Lichtwesen, Geisteswelt – zu glauben? Nein, meint Augustine. Ob eine Aussage wahr ist oder nicht, dafür brauche es Beweise. Solange es keine Möglichkeit gebe, Erfahrungsberichte von Menschen mit Nahtoderfahrungen zu verifizieren, gebe es keinen Grund, den Behauptungen von König zu glauben. Und als Informationsquelle über das Phänomen habe man oft nur solche Berichte. Viele Betroffene würden die Intensität ihres Erlebnisses als Beweis für ihre Überzeugungen anführen. Aber, meint Augustine, das allein sei kein Hinweis darauf, dass ihre Überzeugungen wahr seien. Auch Halluzinationen könnten sich äusserst real anfühlen. Die Intensität des Erlebten sei also kein Hinweis darauf, dass das Geglaubte wahr sei.

Eine Sache für die Neurologen?

Bei aller Skepsis, Augustine sagt auch: «Ich glaube, durch das Studieren solcher Erfahrungen können wir mehr über die innere Funktionsweise des Geistes lernen.» Augustine vermutet, viele Nahtoderfahrungen seien ähnlich, weil das menschliche Gehirn immer gleich aufgebaut sei und die Erfahrungen zudem durch den kulturellen Hintergrund der Betroffenen geprägt seien. Also beispielsweise durch christliche Vorstellungen über das Jenseits. Betroffene Amerikaner träfen häufig Jesus oder auch Engel in ihren Nahtoderfahrungen. Inder hingegen würden oft von Begegnungen mit dem hinduistischen Gott des Todes oder seinen Boten berichten.

«Es ist und bleibt vor allem eine besonders persönliche, intime Erfahrung.»

Stefan Nadile, Sozialwissenschaftler

König kennt natürlich die Zweifel, die Augustine zum Ausdruck bringt. Was die Skeptiker sagten, das sei richtig, meint König. Doch es sei nicht die Aufgabe des Verstandes, solche Dinge zu verstehen. Er ist sich sicher: «Der Verstand kann das gar nicht.»

Am Schluss müssen alle selbst entscheiden

Die Diskussion wird in der Gesellschaft leidenschaftlich geführt. Leicht entsteht der Eindruck, es gebe nur zwei mögliche Positionen in Bezug auf das Phänomen. Jenseits ja und Jenseits nein. Doch das stimmt nicht, sagt Stefan Nadile, Sozialwissenschaftler und Doktorand an der Universität Bern. Er betrachtet Nahtoderfahrungen agnostisch. Er glaubt weder der einen noch der anderen Position. Über die Berichte sagt er: «Es ist und bleibt vor allem eine besonders persönliche, intime Erfahrung.»

Gemäss Nadile gibt es eine grosse Hemmschwelle für Betroffene, über das Erlebte zu sprechen. «Es scheint, als müssten sie sich mit ihrer sehr persönlichen Erfahrung positionieren und würden dann ihre Erfahrung ‹rechtfertigen› müssen», erklärt er. Über die eigene Nahtoderfahrung zu sprechen, könne ein soziales Risiko sein, sich lächerlich zu machen. Viele fühlten sich zudem gehemmt, weil sie nicht Gefahr laufen wollten, als «esoterisch» abgestempelt zu werden, glaubt Nadile. Verheimlichte Nahtoderfahrungen hindern aber letztlich die Forschung zum Phänomen, weil vielleicht abweichende oder ungewöhnliche Berichte von Betroffenen zurückgehalten werden.

Nadile möchte nicht, dass Betroffene das Gefühl haben, schweigen zu müssen. Auch Augustine ist überzeugt, jeder solle seine Ideen vertreten. Und König ermuntert die Skeptiker gleichfalls, mit ihm in den Dialog zu treten. Am Ende, so scheint es, muss jeder selber entscheiden, ob am 25. Dezember 2007 ein Berghang in Davos tatsächlich voller Engel war.

Verwendete Quellen
  • Telefonischer Austausch mit Daniel König
  • Schriftlicher Austausch mit Keith Augustine
  • Schriftlicher Austausch mit Stefan Nadile
  • Website nahtod.ch
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